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Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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der Ankunft der Streifenwagen, des Staatsanwalts, der Fotografen und Kriminaltechniker blieben, überblendete der Maresciallo das grausige Schauspiel mit Szenen, die aus seiner Erinnerung aufstiegen.
    Ein Messer. Kein Brotmesser, aber ein Küchenmesser war es.
    Er sah Signora Hirsch vor sich, wie sie ihm in seinem Büro gegenübergesessen und vor Angst gezittert hatte, als er sie nach einem fremden Geruch fragte. Ob er ihr wieder entgegengeschlagen war, als sie ihre Tür zum letzten Mal öffnete? Jetzt roch man nur noch ihren toten Körper.
    Er hielt sich ein sauberes, zusammengefaltetes Taschentuch vor den Mund und dachte an ihren flehenden Blick, als sie ihm gesagt hatte, daß sie wegen Depressionen behandelt worden, aber nicht verrückt sei. Er hatte seinerzeit Erfahrungen mit Geisteskranken gemacht. In dem Jahr, als die Irrenanstalten von Staats wegen geschlossen wurden und Menschen, die über Jahrzehnte in einer geschlossenen Abteilung gelebt hatten, sich plötzlich auf Gedeih und Verderb ihren Familien oder der Allgemeinheit ausgeliefert sahen. Er wußte wohl, daß es Leute gab, die fähig waren, sich selber die Kehle durchzuschneiden und ein Szenario wie dieses durchzuführen, nur um ihre eigenen Phantasien glaubhaft zu machen. Sie brauchten Hilfe, und mit Mitleid war ihnen nicht geholfen. Der Maresciallo machte sich keine Illusionen. Er wünschte inständig, daß er sie diese Woche noch besucht hätte, aber nur, weil ihr das vielleicht ein wenig menschlichen Halt hätte geben können, nicht, weil es irgendeinen Einfluß auf den Prozeß genommen hätte, der sich in ihrem Leben offenbar unaufhaltsam vollenden mußte.
    »’n Abend, Maresciallo. Könnten Sie…« Er trat beiseite, als der Fotograf von der Spurensicherung sich anschickte, den Flur in der Totale aufzunehmen. Die Küche war nicht sehr groß. Ein bißchen altmodisch, sehr sauber. Die Messer steckten, bis auf das eine, in einem Holzblock neben dem Ablaufbrett. Auch die Wohnzimmereinrichtung wirkte recht altmodisch. Sie war natürlich nicht mehr jung gewesen, aber trotzdem… Die Erklärung ließ nicht lange auf sich warten. Die Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, und sie schlief offenbar in dem kleineren, wo Bücher und Papiertaschentücher auf dem Nachttisch lagen. Das große Schlafzimmer war unbenutzt. Eine Tagesdecke aus goldfarbenem Atlas lag auf dem ansonsten abgezogenen Bett. Es war also das Heim ihrer Eltern gewesen. Sie hatte ihre Mutter erwähnt, von ihrem Tod gesprochen. Depressionen… »Ich bin nicht paranoid.« Vielleicht lohnte es sich herauszufinden, woran die Mutter gestorben war.
    »Fertig? Na, dann dreht sie mal um, ja…« Lautes Poltern. »Das Messer eintüten…« – »Nein, jetzt noch keine Journalisten! Ich hab doch gesagt…«
    Die kostbaren Momente der Besinnung waren vorüber. Das Echo von Signora Hirschs Stimme verhallte. Das Fluidum des Mörders, das auch, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, noch spürbar gewesen war, verflüchtigte sich. Die Wohnung wurde zum Tatort und die Frau zum Leichnam. Klick – relative Position der Leiche im Abstand zur Tür. Klick – die Leiche in Großaufnahme.
    Klick – Halswunde und ausgetretene Blutlache. Klick – die Wunde in Nahaufnahme. Klick – Verwesungsspuren, Körperöffnungen, Schleimhäute. »Rektaltemperatur…« Die Stimme des Arztes. »Mindestens achtundvierzig Stunden, wahrscheinlich länger, aber bei dieser Hitze…«
    Der Staatsanwalt erschien auf dem Treppenabsatz. Ein Mann um die fünfzig. Nicht groß, aber eine elegante Erscheinung. Der Maresciallo ließ den Blick über das gestreifte kurzärmelige Hemd gleiten, die helle Leinenhose und die blankpolierten Schuhe und erklärte sich den distinguierten Eindruck mit dem Bankkonto, der lässig über die Schulter geworfenen Jacke, der edlen und sehr abgewetzten ledernen Aktentasche und dem dünnen Zigarillo, das unangezündet in seinem Mundwinkel hing. Und obwohl er den Mann noch nie gesehen hatte, war er instinktiv auf der Hut und beobachtete ihn verstohlen, während er mit dem Arzt sprach. Dann trafen sich ihre Blicke.
    »Ah, Maresciallo… Guarnaccia, nicht wahr? Wie kommen Sie denn so schnell hierher?« Merkwürdigerweise war das einzig Vertrauenerweckende an ihm das Zigarillo. Erinnerte ihn an Staatsanwalt Fussari, einen eigenwilligen, anarchischen Charakter, mit dem er gleichwohl sehr vertraut gewesen war.
    Der Maresciallo, der bei wichtigen Ermittlungen stets im Weg zu sein glaubte, erklärte kurz, was ihn

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