Nachtblüten
Schritte bis zum Seerosenteich. Als der Maresciallo ihm die Hand reichen wollte, wäre er in seiner Tapsigkeit fast über eine schräg geneigte Marmortafel gestolpert, deren Unterkante von einem weißen Blütenpolster verdeckt wurde.
»Tut mir leid… Entschuldigen Sie.« Das, worauf er da neben dem Teichrand getreten war, sah aus wie ein kleiner marmorner Grabstein. Dieser Garten war gespickt mit peinlichen Fußangeln.
»Durchaus nicht Ihre Schuld. So wie diese entzückenden Blumen den Weg verdecken, weiß man ja wirklich kaum, wo man hintreten soll. Medio de fonte leporum… Wie wahr.«
»Mitten aus dem Quell der Freude… aha…« Beim Beginn der Inschrift konnte der Maresciallo sich noch mit ein paar italienischen Ableitungen behelfen, aber dann war er im wahrsten Sinne des Wortes mit seinem Latein am Ende.
»Bravo. Ja, ich habe oft gehört, daß der Lateinunterricht an italienischen Schulen besser sei als in England. Sie waren offensichtlich kein so schlechter Schüler wie ich. Das heißt, zur Schule bin ich eigentlich nie gegangen… meine Krankheit, Sie wissen… Aber mein Tutor war Engländer und leider sehr phantasielos. Bei fast jeder Lateinprüfung, die er mir gestellt hat, bin ich durchgefallen. Hamilcar Hannibalis pater, dux Carthaginiensis… Warum glauben die Lehrer bloß, alle kleinen Jungen würden sich für Kriege interessieren?… Aber verzeihen Sie, ich vergaß ganz, daß Sie ja selber zum Militär gehören.«
Der Maresciallo starrte immer noch auf die Marmortafel.
»Ist das ein Grabstein für eine Katze?« Er war zu klein für einen Hund und zu groß für einen Kanarienvogel.
»Nein, mein Lieber, da liegt niemand begraben. Ah, Jeremy, hast du dem Capitano alles gezeigt?«
»Ja, und er hat auch schon mit Giorgio gesprochen.«
»Ich wollte Sie doch in diesem Punkt wenn möglich beruhigen, Signore.«
»Und?«
»Soweit ich es bis jetzt beurteilen kann, würde ich sagen, der junge Mann ist in der Tat unschuldig. Sie entlohnen ihn mehr als angemessen, und es fehlt ihm an nichts. Er scheint sehr an Ihnen zu hängen und weiß wohl, daß er alles verlieren und nichts gewinnen würde, wenn er wegen ein paar Silbersachen bei Ihnen in Ungnade fiele, die er obendrein sehr schnell und also zu einem schlechten Preis veräußern müßte. Ich glaube ihm.«
Sir Christopher, der dem Capitano jedes Wort von den Lippen abgelesen hatte, als ob sein Leben davon abhinge, atmete tief durch und streckte seine Hand aus.
»Ich danke Ihnen, Capitano, ich danke Ihnen von Herzen. Und diesem tüchtigen Mann natürlich auch. Ich hoffe, wir sehen uns wieder?« Die Frage richtete sich an den Maresciallo, und der Blick, der sie begleitete, war fast flehentlich.
Maestrangelo versicherte ihm, er könne ganz beruhigt sein. »Der Maresciallo wird Ihnen die Kopie der Anzeige zur Unterschrift vorlegen. Er wird bei der Registrierung der Fingerabdrücke zugegen sein und mit dem übrigen Personal sprechen.«
»Und hoffentlich auch mit mir. Unsere Unterhaltung heute hat mir sehr viel Freude gemacht.«
Er meinte das anscheinend ganz aufrichtig. Trotzdem wandte er ihnen gleich darauf den Rücken, ging wieder in die Laube und ließ sich in seinen Korbsessel sinken, als ob er die beiden im Nu vergessen hätte.
Er hat nicht mehr lange zu leben, dachte der Maresciallo, der wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn jemand so losgelöst und entrückt wirkte. Er ist bereit abzutreten, aber ihm fehlt immer noch sein Skript, wie er das nennt, und so findet er den Ausgang nicht.
Als sie die kurvenreiche Viale de’Colli hinunterfuhren, leuchteten die Bäume rosa und golden, wie von Theaterscheinwerfern angestrahlt. »Ein herrlicher Sonnenuntergang«, sagte der Capitano.
Der Maresciallo fragte: »Sie waren also mit der Geschichte des Jungen zufrieden? Oder wollten Sie Sir Christopher nur beruhigen?«
»So ganz zufrieden bin ich nicht, nein. Was übrigens diesen Giorgio angeht, so heißt er in Wirklichkeit Gjergj Lisi und ist illegal ins Land gekommen – aus Albanien oder aus dem Kosovo –, aber sie haben ihm eine Aufenthaltsgenehmigung verschafft. Früher hat er Medizin studiert. Er ist ein ruhiger, intelligenter Junge und ungemein dankbar, daß er hier sein darf. Außerdem fällt der Diebstahl in Ihr Ressort. Nein, wenn ich nicht zufrieden bin, dann weil ich hier heraufkam in der Erwartung, das Haus eines Mannes kennenzulernen, der wahr und wahrhaftig eine Zeichnung von Leonardo besitzt.«
»Ach, wirklich? Und haben Sie sie
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