Nachtblüten
gesehen?«
»Eben nicht! Weder die Zeichnung noch sonst etwas aus seiner Sammlung, abgesehen von ein oder zwei unbedeutenden zeitgenössischen Porträts. Man hat mir das Schlafzimmer seines Vaters gezeigt, und den Jungen mußte ich im Küchentrakt vernehmen. Aber sei’s drum, immerhin war ich in dem Haus mit der Leonardo-Zeichnung, und außerdem gehören die Villa und der Park zu den berühmtesten von ganz Florenz. Sie kommen in einem Buch vor, das ich letzte Weihnachten von meiner Bank geschenkt bekam. Da sind fünf oder sechs Farbtafeln von L’Uliveto drin, und weil das Anwesen nicht öffentlich zugänglich ist, wollte ich halt diese Gelegenheit nutzen. Ich war Ihnen hoffentlich nicht im Wege, aber es handelt sich ja nur um eine Bagatelle.«
»Hm.«
»Sie meinen, es steckt mehr dahinter?« Der Capitano sah ihn forschend an. Er behauptete immer, je einsilbiger Guarnaccia werde, desto mehr sei von ihm zu erwarten. Der Maresciallo verstand das nicht. Wenn er verstummte, dann weil er nichts zu sagen hatte. Wollte ihn jemand ausfragen, dann machte ihn das nur verlegen, und er wurde noch schweigsamer. Alles, was er jetzt herausbrachte, war ein abwehrendes: »Nein, nein…« Der Capitano war ein tüchtiger Mann, er war seriös und gebildet. Aber er durfte nicht zuviel von einem Unteroffizier erwarten. »Nein, nein…«
Und so wandte sich ihr Gespräch, als sie in die Stadt hinunterkamen, anderen Themen zu: Doris Aussage, Ilir Pictris Vetter Lek und seiner ›Baufirma‹, einem lukrativen Geschäft, das er von einer Wohnung in der Via dei Serragli aus betrieb und gegen das der Capitano ermittelte, dem Zustand des mißhandelten schwangeren Mädchens mit den Knochenbrüchen.
»Der Fall kommt im September vor Gericht.«
»Dann haben Sie die Kerle also überführt? Aber das Mädchen ist doch noch längst nicht verhandlungsfähig? Ich hörte, sie sei noch im Krankenhaus. Lorenzini erwähnte so was.«
»Stimmt, aber es war noch ein anderes Mädchen dabei. Das haben sie auch bedroht, aber vermutlich wollten sie der Kleinen nur Angst einjagen. Was ihnen auch bestens gelungen ist. Sie hat über Notruf um Hilfe gebeten. Offenbar sind die Mädchen zusammen hergekommen – beide erst siebzehn.«
Es war sehr leicht, sich Volkes Stimme anzuschließen und jedem Schuldgefühl angesichts dieser unglücklichen albanischen Mädchen mit dem Argument vorzubeugen, die wüßten doch genau, wozu sie hierherverfrachtet würden und welche Gefahren ihnen drohten. Schließlich guckten die Albaner doch alle italienisches Fernsehen und sähen also auch die Nachrichten.
Die Crux an dieser wohlfeilen Ausrede war bloß, daß Menschen in Not sich alles zutrauen, wenn sie eine Chance sehen, ihrer ausweglosen Armut zu entkommen. Und das galt ganz besonders für unerfahrene junge Mädchen, die sich einbildeten, sie könnten auf der Straße ein bißchen Geld verdienen und dann aussteigen und ein besseres Leben anfangen. Womit sie doppelt falsch lagen. Die Zuhälter machten das große Geld, und die Mädchen schafften den Absprung nicht. Konnten ihn nicht schaffen, denn sie saßen rettungslos in der Falle. Außerdem kann eine Siebzehnjährige weder die eigenen Kräfte realistisch einschätzen, noch hat sie eine Vorstellung von den Perversitäten, die man ihr möglicherweise abverlangen wird.
Ein anderes Mädchen, das mit schweren Prellungen und Knochenbrüchen im Krankenhaus lag, hatte sich über ihrem ersten Kunden erbrochen und ihn und sein brandneues Auto besudelt. Zur Strafe zwang man sie, das, was der Kunde verlangt hatte, für ihren Zuhälter und zwei seiner Kumpane zu tun, und als sie auch die vollkotzte, wurde sie zusammengeschlagen.
»Hoffen wir, daß das Unglück des schwangeren Mädchens wenigstens ihre Freundin zur Vernunft bringt.«
»Sie denken sehr vernünftig«, sagte der Capitano. »Ich bin schon froh, wenn sie vor Gericht ihre Aussage macht.«
»Ist sie an einem sicheren Ort?«
»O ja. In einem Kloster.«
Sie fuhren durch die Via Maggio, und der Maresciallo erinnerte sich. »Würden Sie mich bitte hier rauslassen? Ich möchte die Abkürzung durch die Sdrucciolo de’ Pitti nehmen. Ich muß dort noch einen Besuch machen.«
Mitunter gibt es Dinge, die wir uns selbst nicht erklären können, obgleich die Zeichen vorhanden wären, wenn wir sie nur zu deuten wüßten. Der Maresciallo stand in der dumpf brütenden Hitze, hörte in seinem Rücken den lärmenden Feierabendverkehr von der Via Maggio und sah am anderen Ende der Gasse
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