Nachtblüten
wohl für gewöhnlich saß. Auf der sehr ordentlichen Schreibplatte standen lediglich ein elegantes Schreibtischset und eine silberne Schale mit Visitenkarten. Vor der Tür hielt mit tuckerndem Motor ein dreirädriger Transportwagen – offenbar die erwartete Lieferung. Rinaldi kam als erster herein. Ängstlich besorgt wie eine Katzenmutter ihre Jungen, so umstrich er die beiden baumlangen Kerle, die eine fast mannshohe und augenscheinlich ungemein schwere Kiste in den Laden schleppten. Ihre Gesichter waren vor Anstrengung gerötet, und sie schnappten nach Luft.
»Halt! Setz sie ab! Ich kann nicht mehr…« Die Männer stellten die Kiste hochkant in die Mitte des kleinen Raums und griffen sich keuchend und vornübergebeugt an die Brust. Einer der beiden, dessen fettige blonde Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, schwitzte so stark, daß große Tropfen von seiner Nase auf den gebohnerten Fußboden spritzten. Auch der kahl geschorene Schädel des anderen glänzte vor Schweiß. »Ich dachte schon, die kriegen wir nie auf den Wagen. Nächstes Mal brauchen wir aber einen dritten Mann… O Gott…«
»Es gibt aber keinen dritten, dem ich so vertrauen könnte wie euch.« Rinaldi, der unaufhörlich die Hände öffnete und schloß, schien selber kaum atmen zu können.
»Ihr müßt sie nach hinten in die Werkstatt bringen, zu den Restauratoren.«
Und die beiden schafften auch das noch, obwohl der Maresciallo befürchtete, sie könnten bei der neuerlichen Anstrengung einen Herzanfall erleiden. Die Kiste wurde aufgebrochen, und Guarnaccia erhaschte einen flüchtigen Blick auf in Stein gehauene Gewandfalten, die freilich rasch unter einem Vorhang verschwanden. Und als die beiden Lastträger wieder in den Laden kamen, schlossen sie die Tür hinter sich.
Sie gingen ohne Bezahlung und wechselten nur ein fast unmerkliches Zeichen mit Rinaldi. Der Maresciallo war dergleichen gewohnt. Er ermittelte in einem Mordfall, und sie versuchten eine läppische Schwarzarbeit vor ihm zu vertuschen. Bei so gut wie jeder Untersuchung hatte man unnötige Scherereien mit Leuten, die einem ganz offensichtliche Dinge verheimlichten, für die man sich ohnehin nicht interessierte. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um Steuerbetrug und Ehebruch.
Der Maresciallo beschloß, Rinaldi unverzüglich auf andere Gedanken zu bringen.
»Wenn Sie mir die Frage gestatten: Titulieren Sie Ihre Lieferungen immer so persönlich? Ich meine… Sie nannten diese Kiste eben eine ›Sie‹…«
»Was…? Oh, ich verstehe.« Die Ablenkung war geglückt, der Händler wirkte erleichtert. »Also in dieser Kiste war eine Statue der Göttin Athene. Wahrlich eine ›Sie‹, nicht wahr? Hat leider sehr gelitten – die Luftverschmutzung, Sie verstehen. Nun, Sie kommen sicher wegen des tragischen Falles oben im zweiten Stock. Aber ich habe die Frau kaum gekannt.«
»Ach ja, ich hörte bereits, daß sie sehr reserviert gewesen sei, nicht viel mit ihren Nachbarn gesprochen habe.«
»Mit mir überhaupt nicht.«
»Sie haben sie also nie besucht?«
»Niemals. Ein ›Guten Morgen, Guten Abend‹ auf der Straße oder im Treppenhaus, das war alles.«
»Wirklich? Vielleicht ist es nur Tratsch, aber irgendwo hörte ich von einer Auseinandersetzung…«
»Wie Sie ganz richtig sagen: Die Leute tratschen, Maresciallo.«
»Also keine Unstimmigkeiten?«
»Nein.«
Der Maresciallo hüllte sich in Schweigen. Reglos und massig stand er da und musterte Rinaldi in aller Ruhe. Das wellige Haar, das ihm, obwohl bereits schlohweiß, bis auf den Kragen seines Sweatshirts fiel. Die roten Wangen und die Lachfältchen um die Augen, die seinem Gesicht einen jovialen Ausdruck verliehen. Das kleine Bäuchlein. Vor allem seine Hände verrieten, daß er eher auf die siebzig als auf sechzig zuging, aber er trug immer noch Bluejeans. Ein eitler Mensch, der nicht nur sein Alter zu überspielen versuchte. Wahrscheinlich fand er Gefallen an lukrativen Geschäften, deren Ausführung eine gehörige Portion Waghalsigkeit erforderte. Vielleicht hatte er gerade ein paar solcher Geschäfte laufen, aber selbst wenn eines davon die geheimnisvolle ›Sie‹ in der Kiste betraf, würde er den Maresciallo nur auslachen, falls der versuchen sollte, ihm zu drohen. Und das ganz zu Recht. Doch der Maresciallo arbeitete ohnehin nicht mit Drohungen. Er wollte den Mann nur so in Verlegenheit bringen, daß er schließlich doch irgend etwas über seine Nachbarin preisgab, bloß um das peinliche
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