Nachtblüten
versprochen? Signora Hirschs ängstliche Augen. Auf sie wollte er sich jetzt konzentrieren, nur daß ihm das ein bißchen spät einfiel, nicht wahr? Tagelang hatte er sie völlig vergessen.
Und diesem tüchtigen Mann natürlich auch… Sir Christopher würde sterben. Diesen letzten Weg müssen wir alle allein gehen. Wie sollte er ihm dabei helfen?
»Guarnaccia?«
»Ich gehe, sobald der Staatsanwalt mich entbehren kann.«
Er stand auf, streifte Jacke und Holster über, nahm seine Mütze vom Haken, gab Lorenzini Bescheid und tastete schon auf der schmalen Stiege nach seiner dunklen Brille. Die Sonne brannte so grell vom ausgebleichten Himmel, daß ihm im Nu die Augen übergingen. Im Vorhof des Palazzos drückte er sich in den Schatten einer hohen Mauer, der freilich auch keinen Schutz bot vor der sengenden Hitze, der stickigen Luft. Bei diesen tropischen Temperaturen machten die Autoreifen mitunter das gleiche schmatzende Geräusch wie an Regentagen, aber es regnete nicht, außer zwischendurch einmal ein paar dicke Tropfen, die, kaum daß sie den Boden berührten, schon wieder verdampften, so daß man sich erst recht wie in einem türkischen Bad vorkam. Der Maresciallo bewegte sich nur langsam. Denn er wollte vermeiden, daß ihm schon nach ein paar Schritten das Hemd am Leib klebte und ihn sein Gedächtnis und seine Geduld vor lauter Erschöpfung im Stich ließen. Wem im Juli tagsüber der Geduldsfaden reißt, der fängt sich frühestens nach der abendlichen Dusche wieder. Nicht zu glauben, wie viele Menschen sogar noch gutes Geld dafür zahlten, um sich nicht nur all diesen Unbilden auszusetzen, sondern sich auch noch mit einer fremden Stadt und einer Sprache herumzuschlagen, deren sie nicht mächtig waren.
»Du hältst die Karte ja verkehrt herum!«
»Ich hab dir gesagt, du kriegst mich in keinen Laden mehr!«
»Mama, ich hab Durst!«
»Eine sehr berühmte Gemäldesammlung, und nun will ich kein Wort mehr von euch hören, bis…«
»Mußtest du dir das ganze Eis aufs Hemd kleckern?«
Ohne ein Wort zu verstehen, konnte der Maresciallo den Klageliedern folgen, die ihm in einem Dutzend Fremdsprachen um die Ohren schwirrten. Und während er am nächsten Fußübergang wartete, grummelte er wie jeden Sommer: »Ich weiß nicht, wozu die alle hierherkommen, wären wahrhaftig besser zu Hause geblieben, die Ärmsten.«
Weiter vorn hatte es eine Massenkarambolage gegeben. Statt noch länger auf Grün zu warten, schob sich der Maresciallo, begleitet von einem obligatorischen Hupkonzert, zwischen den wartenden Autos über die Fahrbahn.
Im Vergleich zur Hauptstraße war die Sdrucciolo de’ Pitti eine Oase des Friedens. Zwar verstopften Mopeds und Fahrräder die enge Gasse, und gelegentlich mußte man sich platt gegen eine Mauer drücken, um einem weißen Mercedes-Taxi auszuweichen, ansonsten aber konnte man mitten auf dem Pflaster laufen und blieb vor dem ärgsten Lärm verschont. Rinaldi, der Antiquitätenhändler, stand vor seinem Laden und spähte die Gasse hinunter, ganz so, als erwarte er jemanden. Dann wandte er sich in die andere Richtung und sah statt dessen den Maresciallo auf sich zukommen.
»Ah! Ich habe das von Signora Hirsch gehört. Wenn Sie denken, ich könne Ihnen helfen, dann kommen Sie herein. Sie gestatten, daß ich die Straße im Auge behalte? Ich erwarte nämlich eine Lieferung. Sind sehr gute Leute, die besten, die man kriegen kann, aber bei Objekten von großem Wert, Sie verstehen…«
»Natürlich. Kümmern Sie sich nur um Ihre Lieferung. Wir können uns nachher unterhalten, ich warte solange drinnen.« Kaum daß er im Laden stand, bereute er seine Entscheidung. Normalerweise war es ihm sehr lieb, unbemerkt Örtlichkeiten in Augenschein nehmen und erst recht Menschen von hinten beobachten zu können. Aber in diesem Fall war die Bezeichnung ›Objekte von großem Wert‹ eine ebensolche Untertreibung wie die, ihn einen ›Elefanten im Porzellanladen‹ zu nennen. Also setzte er die Sonnenbrille ab und blieb unbeweglich auf der Stelle stehen. Nur seine großen Augen, denen nichts entging, wanderten durch den langen dämmrigen Raum mit dem rötlich glänzenden Parkett, den vergoldeten Bilderrahmen und verwitterten Statuen. Das Tageslicht, das von der Gasse hereinfiel, wurde größtenteils von Rinaldis breitem Rücken verschluckt. Aber eine reichverzierte, vergoldete Lampe mit seidenem Schirm warf ihren mattgoldenen Schein auf einen zierlichen Sekretär mit ornamentalen Intarsien, an dem Rinaldi
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