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Nachtblüten

Nachtblüten

Titel: Nachtblüten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Magdalen Nabb
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grünen Schleim habe er erbrochen, was beweise, daß er vom Teufel besessen sei. Woher wußten sie das? Sie hatten doch alle beisammengesessen und ihre warmen Paninos verdrückt, wie hätten sie das also beobachten können? Am Montag fehlte Vittorio in der Schule, aber er war nicht krank, denn auf dem Heimweg hatten sie ihn in einem Weinberg gesehen, wo er die Trauben büschelweise von den Rebstöcken riß und gegen sein emporgerecktes Gesicht preßte, gierig beißend und schlürfend, und kaum, daß er die Schalen ausgespuckt hatte, griff er schon nach der nächsten Traube, während ihm der purpurne Saft über Kinn und Arme tropfte. Am blauen Septemberhimmel stand keine Wolke, aber zuvor mußte es geregnet haben, denn er erinnerte sich, daß Vittorios senkellose Schuhe tief in den weichen Lehmboden eingesunken waren und große welke Blätter an seinen nackten Beinen klebten. Er war nie wieder zum Ministrieren gekommen. Weil seine Mutter eine Prostituierte sei, behaupteten die anderen.
    Das alles zeugte nicht gerade von christlicher Nächstenliebe. Und doch… die kühle Stille in diesem Raum, die weihevolle Ruhe wirkten so wohltuend, daß er gern eine ganze Stunde hätte warten mögen. Aber es dauerte nicht lange, da hörte er Schritte auf den karminroten Fliesen.
    »Maresciallo? Es tut mir leid, aber während der Mittagshitze lassen wir das Mädchen gern ein wenig schlafen.
    Wie Sie sich denken können, steht sie immer noch unter Schock. Vor der Verhandlung braucht sie möglichst viel Ruhe und kräftigende Nahrung. Aber natürlich kann ich sie wecken, falls es absolut…«
    »Nein, nein…« Der Maresciallo, der in Gedanken ganz mit dem Fall Hirsch befaßt war, starrte die Nonne, eine hagere, sehr bewegliche Erscheinung und so groß wie er, zunächst verständnislos an. Doch dann versicherte er ihr hastig, daß er keineswegs hier sei, um mit dem albanischen Mädchen zu sprechen, dem das Kloster Zuflucht gewährte, und erklärte sein Anliegen.
    »Ah, ich verstehe. Dann müssen wir in unseren Unterlagen nachsehen. Und vielleicht kann Schwester Dolores Ihnen weiterhelfen. Sie war damals nämlich schon hier. Aber bitte, setzen Sie sich doch. Ich mache Ihnen ein bißchen mehr Licht.« Sie öffnete die Fenster, stieß die braunen Jalousieläden etwas weiter auf und stellte die unteren Lamellen waagrecht, so daß Licht hereinströmen konnte, die Hitze aber ausgesperrt blieb. Die Fenster waren fast raumhoch, und der Maresciallo bewunderte die Kraft ihrer schlanken Hände und die präzise Anmut ihrer Bewegungen. Unbeholfen wie er war, beeindruckte ihn die Geschicklichkeit anderer immer sehr. Wie alt sie wohl sein mochte? Er verstand sich nicht besonders gut darauf, das Alter einer Frau zu schätzen, und nun gar eine Nonne! Schwester Dolores, mit der die erste Nonne nach einer weiteren angenehmen Wartefrist zurückkam, war entschieden sehr alt. Und krank – zumindest war sie es gewesen, denn beide Füße knickten stark einwärts, und sie konnte sich nur sehr langsam und mit Hilfe zweier Vierfuß-Gehhilfen fortbewegen. Doch ihre Augen hinter der häßlichen Brille blickten klug und scharf, und wie sich bald zeigte, verfügte sie über ein tadelloses Gedächtnis. Sobald sie an einem Tisch Platz genommen hatte, konnte sie anhand der Einträge in dem dicken Buch, das die andere Schwester ihr vorlegte, sowie der beiden Taufurkunden, die der Maresciallo mitgebracht hatte, rasch das wenige rekonstruieren, was sie von Sara Hirsch und ihrer Mutter Ruth wußte.
    »Schwester Philip Anthony hat unser Archiv inzwischen im Computer gespeichert. Aber ich bin zu alt, um noch zu lernen, wie man damit umgeht.«
    »Geht mir genauso«, sagte der Maresciallo, dem die eher furchteinflößende Nonne nun gleich viel sympathischer wurde.
    »Hier… das ist meine Handschrift. Wie die Zeit vergeht … Wir haben Ruth Anfang 1943 aufgenommen, allerdings erinnere ich mich, daß sie da schon eine Zeitlang in Florenz war. Sie kam aus Prag. Ihr Vater, der, glaube ich, hier Geschäftsverbindungen unterhielt, hatte sie hergeschickt. Natürlich wollten die Eltern ihre Tochter retten. Sie selber sind in den Lagern umgekommen. Sie konnten natürlich nicht ahnen, wie die Dinge sich am Ende hier bei uns entwickeln würden. Niemand konnte das voraussehen. Keiner hätte geglaubt, daß die Ende 1938 so überstürzt verabschiedeten Rassengesetze tatsächlich zur Anwendung kommen würden. Aber so geschah es. Ruth wollte eigentlich gar nicht zu uns kommen, doch mit

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