Nachtblüten
ihrem ausländischen Paß wäre sie draußen zu sehr aufgefallen. Auch für uns war es keine leichte Entscheidung. Italiener ließen sich viel problemloser verstecken. Wir brauchten sie nur zu taufen, und damit war es gut, zumindest bis die Besatzung kam. Aber mit Ausländern, die auch noch italienische Papiere benötigten, war es natürlich viel komplizierter.«
»Konnten Sie denn die erforderlichen Papiere überhaupt beschaffen?«
»Manchmal. Bei Ruth ist es uns geglückt. Viele andere blieben freilich staatenlos, als ihre Heimatländer dem Kommunismus anheimfielen. Mit Ruth Hirsch hatten wir ein zusätzliches Problem durch ihre Schwangerschaft. Der sicherste Weg, die zu verbergen, war der, sie als Novizin zu verkleiden, aber Sie können sich vorstellen… Jedoch, wir haben es geschafft, und das kleine Mädchen wurde, wie Sie aus den Urkunden ersehen, vierundvierzig hier geboren und getauft.«
»Wie ist Ruth Hirsch mit Ihnen in Verbindung getreten?«
»Durch die jüdische Gemeinde. Wie viele andere kam sie durch Kardinal Della Costa zu uns, der wiederum über den späteren Bürgermeister La Pira Kontakt zur jüdischen Gemeinde unterhielt. Mehr als zwanzig toskanische Klöster schlossen sich der Hilfsaktion an, und gemeinsam konnten wir vielen Menschen das Leben retten. Vielleicht wären es noch mehr gewesen, wenn unter den jüdischen Familien nicht so viele die Augen vor der Gefahr verschlossen hätten, bis es schließlich zu spät war… Ruth und die kleine Sara blieben bei uns, bis die Deportationen begannen. Dann wurde es zu gefährlich, weil dauernd Razzien und Durchsuchungen stattfanden, und wir hätten ja das Kind nicht erklären können. Also brachten wir die beiden zusammen mit anderen Kindern, die wir versteckt hielten, in eins unserer Waisenhäuser auf dem Land. Hier ist der Eintrag über Ruths Verlegung.«
»Schwester Perpetua… so haben Sie sie also genannt? Hat sie je über den Vater des Kindes gesprochen?«
»Sie erzählte uns, sie seien durch die Kriegswirren getrennt worden. Sie sprach von ihm, als sei er ihr Ehemann gewesen…«
»Aber Sie glaubten ihr nicht.«
»Sie war achtzehn, als das Kind geboren wurde, und hatte, wie gesagt, schon eine Zeitlang in Florenz gelebt. Wenn ihre Geschichte stimmte, hätte die Hochzeit also gleich nach ihrer Ankunft stattgefunden haben müssen. Aber es ist nicht an uns zu richten. Und ungeachtet der tragischen Umstände müssen wir unserem Herrn danken, daß wir beide, Mutter und Kind, haben taufen können.«
Aus dem törichten Gefühl heraus, Sara, deren Geburt und Tod mit soviel brutaler Gewalt einhergegangen waren, verteidigen zu müssen, sagte der Maresciallo: »Von den Nachbarn habe ich auch gehört, daß Saras Mutter verheiratet war – jedenfalls hatte sie ein Foto von ihren Eltern. Und ich glaube, es gab auch noch ein zweites Kind. Sie sprach jedenfalls von einem Bruder…« Nach dem kühlen Blick der Nonne zu urteilen, machte er als Verteidiger wenig Eindruck. Resigniert gab er auf und fragte statt dessen: »Haben die beiden Sie gleich nach dem Krieg verlassen?« Schwester Dolores blätterte wieder in dem dicken Buch und suchte mit trockenem bleichen Finger nach einem bestimmten Eintrag.
»Am fünfzehnten Januar fünfundvierzig. Bis zu dem Zeitpunkt hatte sie noch kein Geld und keine Bleibe.«
»Und dann? Hat jemand beides bereitgestellt? Sie glauben, der Vater…«
»Tut mir leid, Maresciallo, aber ich kann Ihnen nur die Fakten nennen, wie sie hier verzeichnet sind. Sie werden verstehen, daß wir uns keinen Spekulationen hingeben.«
»Verzeihen Sie. Ich wollte ja auch nur Ihre Meinung… Sie wurde ermordet.«
»Ich werde für sie beten.«
Der Maresciallo wandte sich hoffnungsvoll an die jüngere Nonne. »Hat sie Sie denn später nie besucht? Um Ihnen zu danken?«
Doch die Schwester antwortete nur mit einem Blick auf das Register, dessen Seiten Schwester Dolores umblätterte.
»Das Kloster erhielt eine Schenkung – eine stattliche Summe, wie Sie sehen – ›gestiftet von Ruth und Sara Hirsch im September 1946 ‹. Das ist der letzte sie betreffende Eintrag. Schwester…« Die jüngere Nonne mußte ihr beim Aufstehen behilflich sein und ihr die Gehhilfen reichen.
Der Maresciallo dankte beiden für ihre Auskünfte und sagte, er fände selbst hinaus.
Als er im Büro des Staatsanwalts eintraf und von seinem Besuch im Kloster berichtete, stand ihm die Unzufriedenheit offenbar ins Gesicht geschrieben. Jedenfalls vergaß der Staatsanwalt sein
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