Nachtblüten
besaß und es nur nicht herzeigte.«
»So wie sie auch keine konkreten Informationen über ihn preisgab? Also, bis jetzt klingt er mir reichlich nach einer Phantasiefigur. Übrigens habe ich nur einen einzigen Hirsch im Telefonbuch gefunden, doch der Anschluß existiert nicht mehr, also werde ich Sie gar nicht erst damit behelligen. Aber weiter im Text. Auf die Frage, ob sie je gearbeitet habe, antwortete sie, ihre Mutter habe das nicht gewollt, da sie es finanziell nicht nötig hatten. Sie selbst habe zwar als junges Mädchen daran gedacht, sich aber dann doch der Weisung ihrer Mutter gefügt, die zu sagen pflegte: ›Vergiß nie, wer du bist und daß du eines Tages den Platz in der Welt einnehmen wirst, der dir zusteht.‹ Ach, du meine Güte, das läßt das, was Sie über ihren mutmaßlichen Vater sagten, ziemlich glaubwürdig erscheinen, wie?«
»Sie hat sich nicht näher dazu geäußert?«
»Sie hat überhaupt nichts erklärt, nur eine Reihe von scheinbar unzusammenhängenden Fakten aufgezählt. Das einzige, was sie deutlich machte, war, daß sie dringend Hilfe brauchte.«
»Hm. Genauso hat sie sich auch bei mir verhalten. Und auch mir kam der Verdacht, daß einiges von dem, was sie erzählte, womöglich erfunden war.«
»Aber sie wurde ermordet.«
»Ja.«
»Ich lese Ihnen mal die abschließende Analyse der Psychologin vor: ›Die Patientin hat offenbar keine Schwierigkeiten, ihre psychische Befindlichkeit einzuordnen, und obwohl sie sich gegenwärtig nicht in der Lage fühlt, für sich selbst zu sorgen, ist sie über ihre Verhältnisse vollkommen im Bilde. Ihre Ängste sitzen sehr tief und entspringen echten Problemen, die sie indes nicht einmal in strikt vertraulichem Gespräch zu artikulieren vermag. Ganz augenscheinlich hängen diese Probleme mit ihrer Mutter zusammen, zu der sie anscheinend gleichwohl ein enges und liebevolles Verhältnis hatte. Wie sie selbst erklärt, begann sie unter dem Gefühl der Hilflosigkeit und Schwäche erst seit dem Tode der Mutter zu leiden, ohne die niemand mehr da sei, der ihre ›Interessen verteidigt.‹ Die Patientin hat offenbar ihr Leben lang darauf vertraut, daß das Problem, welches offenzulegen sie sich weigert, sich von selbst erledigen würde. Der Tod der Mutter scheint dann, neben dem ganz natürlichen Schmerz über den Verlust, die Erkenntnis ausgelöst zu haben, daß ihr eigenes Leben an ihr vorbeigegangen ist, indem sie sich, statt zu leben, auf einer Warteposition einrichtete.
Keine paranoiden Symptome. Keinerlei Hinweis auf manisches Verhalten im Krankheitsbild. Abschließende Diagnose: Reaktive Depression.
Das ist eigentlich alles. Die Psychologin empfiehlt Beruhigungsmittel, Diät, viel Bewegung, frische Luft etcetera etcetera. Später dann…« Der Staatsanwalt blätterte die Akte durch und übersprang Photokopien von Elektrokardiogrammen, Bluttests, Formulare und handgeschriebene Briefe. »Hier… zwei Jahre später wurde sie mit fast den gleichen Symptomen wieder in derselben Klinik aufgenommen. Die nämlichen Tests bei einem anderen Psychologen, der aber so ziemlich die gleiche Diagnose stellt: ›Kontaktarm, ängstlich, auf Ursachen ihrer Depression nicht ansprechbar.‹ Da sind sogar Auszüge aus den Sitzungsprotokollen beigefügt: Wenn Sie sagen ›Wären die Verhältnisse so, wie sie sein sollten‹ – was ist damit gemeint? Könnten Sie mir das etwas näher erklären?
Es gibt Probleme. Aber eines Tages wird mein Leben so werden, wie es sein sollte.
Haben Sie konkrete Gründe für diese Hoffnung auf einen radikalen Wandel in Ihrem Leben?
Ja, die habe ich.
Und glauben Sie, Sie könnten mir diese Gründe nennen?
Auf keinen Fall. Das sind sehr private und… komplizierte Vorgänge. Die Sie auch kaum verstehen würden.
Was meinen Sie, ob sie den Vater erpreßt hat?«
»Wenn ja, dann jedenfalls nicht sehr erfolgreich. Sie war in Tränen aufgelöst, weil sie ihren Anteil an den Renovierungskosten vom Haus nicht aufbringen konnte – allerdings habe ich das nur von dem Kaufmann gehört…«
»Und glauben Sie ihm?«
»Ich glaube, er hat nicht gelogen.«
»Dann halten Sie es also für wahr?«
»O nein, nein… es kann gar nicht stimmen. Nein, darum ist sie ja, soweit ich das verstanden habe, zu mir gekommen. Die Wohnung gehörte ihr nämlich gar nicht. Die Drohung auf dieser anonymen Postkarte: ›Nun, da wir wissen, wo Sie wohnen‹ – das ist genau die Taktik dieser skrupellosen Anwälte, die eine rasche Räumung erzwingen
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