Nachtblüten
er den Hörer aufgelegt hatte, wurde der Maresciallo das Bild von dem schlaffen, schmächtigen Körper nicht los und auch nicht den Gedanken, daß, unabhängig von der Albanienfrage, die jungen Leute heutzutage in der ganzen Welt herumreisten, und falls eins von seinen Kindern in einem fremden Land überfahren würde… Nun, er würde es gar nicht erst soweit kommen lassen. Sie würden allein nirgendwohin fahren, bevor sie nicht mündig und erwachsen waren… Bloß, wann hörte man auf, seine Kinder als Kinder zu betrachten und sich um sie zu ängstigen? Verschwand diese Angst von einem Tag auf den anderen? Konnte man sie je überwinden, wenn man Dinge mit ansah, wie er sie tagtäglich erlebte? Er wußte, daß einige seiner Kollegen so weit gingen, ihre Kinder im Teenageralter beschatten zu lassen, aus Furcht vor Drogen, schlechtem Umgang. Das war falsch, aber wenn er wirklich Angst hätte, würde er es nicht genauso machen?
Vor ihm auf dem Schreibtisch lag der Autopsiebericht von Sara Hirsch. Kaum ein erfreulicher Themenwechsel, aber immerhin eine Lektüre, die seine ganze Konzentration erfordern und ihn von seinen quälenden Gedanken ablenken würde.
Sie bewirkte noch mehr.
An den Staatsanwalt der Republik, Florenz
Am 15. d.M. wurde der unterzeichnende Pathologe Dr. Federico Forli vom Gerichtsmedizinischen Institut der Stadt Florenz in die Sdrucciolo de’ Pitti 8 gerufen, um eine äußerliche Untersuchung des Leichnams von HIRSCH, SARA vorzunehmen, und nachfolgend gebeten, eine Sektion an vorgenanntem Leichnam durchzuführen. In Beantwortung der vordringlichen Fragen der Ermittlungsbehörden gebe ich folgenden Befund zu Protokoll:
1) Todeszeitpunkt: etwa 72 Stunden vor Auffinden der Leiche 2) Todesursache: Spektruminfarkt des linken Ventrikels…
Erleichtert lehnte sich der Maresciallo in seinem Sessel zurück. Sara Hirsch war also, nachdem sie ihn am Montag aufgesucht hatte, heimgegangen und hatte wie versprochen ihren Anwalt angerufen. Sie hatte ihre Trümpfe ausgespielt, und noch am selben Abend war, wie die Aussage der Nachbarn und der Autopsiebericht übereinstimmend bestätigten, jemand in ihre Wohnung eingedrungen und hatte sie bedroht, um sich in den Besitz dieser Trümpfe zu bringen. Sie hatte Herzprobleme, wie der Kaufmann gesagt hatte. Sie war an dem Schrecken gestorben. Ihr Tod war ein Versehen. Wenn sie die Safekombination verraten hätte, als man ihr das Messer an die Kehle hielt, wäre sie noch am Leben und würde weiter versuchen, den Maresciallo oder irgendeinen Psychiater von ihrer Geschichte zu überzeugen, ohne sie wirklich preiszugeben.
Der Autopsiebericht führte im folgenden noch all die Wunden auf, an denen Sara Hirsch nicht gestorben war: ein unbedeutender Messerstich links am Hals mit hochgeklapptem Hautfetzen; eine Schädelwunde und Quetschungen am Hinterkopf, wo sie auf dem Marmorboden aufgeschlagen war. Von dieser Schädelverletzung stammte auch das meiste ausgetretene Blut, wie die Fotodokumentation zeigte. Kopfwunden bluten immer sehr stark, aber in ihrem Fall hatte die Blutung nicht lange gedauert. Die Herzattacke war besonders schwer gewesen. Der Staatsanwalt würde nun weitere detaillierte Analysen der äußeren Verletzungen anordnen, anhand derer sich die Dynamik des Sterbeprozesses rekonstruieren ließ.
Der Maresciallo interessierte sich mehr für das, was danach geschehen war. Waren die Einbrecher kopfscheu geworden? Eine Leiche hatte nicht zu ihrem Plan gehört. Der beschränkte sich auf eine Postkarte mit anonymen Drohungen, Warnbesuche in der Wohnung, das Messer in der Diele, Dinge, die… außer vielleicht das Messer, das auf einen skrupellosen Hauswirt schließen ließ… Wir wissen, wo Sie wohnen… Es lief immer noch auf den skrupellosen Hausbesitzer hinaus. Was immer in der Gleichung fehlte, mußte auf seiten Sara Hirschs ergänzt werden. Die Bedrohung mußte von ihr ausgegangen sein. Und am Ende hatte sich jemand gegen sie zur Wehr gesetzt. Wenn nur das Grundbuchamt auf dem neuesten Stand wäre! Dort war das Gebäude, in dem das Opfer gewohnt hatte, komplett als Eigentum eines gewissen Jacob Roth ausgewiesen. Ein ungefälliger Beamter hatte defensiv behauptet, ihre Einträge seien nie mehr als zwei Jahre im Rückstand, aber der Maresciallo wußte, daß das Unsinn war. Die Rossis hatten ihren Kaufvertrag vor zwei Jahren eingereicht, und Rinaldi gehörten vermutlich sowohl sein Laden als auch die Wohnung im ersten Stock. Allein, noch bestand Hoffnung, denn
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