Nachtblüten
möge, damit sie mit ihm sprechen würde.
»Salva?«
Zuerst sagte sie nicht viel. Sie hörte ihm zu, während er ihr von dem Mädchen erzählte, schaute ihm forschend ins Gesicht, wartete, bis er sich gewaschen und hingelegt hatte, und brachte ihm dann einen Kamillentee mit Honig.
Als sie ins Bett kam, ließ sie die Nachttischlampe brennen, damit er seinen Tee trinken konnte, während sie redete. Es kam ihm nicht darauf an, was sie erzählte. Sie hatte das nie verstanden, und in jungen Jahren hatte er sie manchmal gekränkt, wenn er sagte, sie sei doch ein rechtes Plappermaul. Er sagte es nicht unfreundlich, ja, machte sich nicht einmal lustig über sie. Er war einfach erstaunt über die Freude, die es ihr machte, sich ihm mitzuteilen, da er sich so gar nicht aufs Plaudern verstand.
Hör nicht auf. Ich wollte dich nicht unterbrechen.
Ich kann mir meine Worte sparen, du hörst ja doch nicht zu.
Das stimmt nicht. Ich höre zu. Ehrlich.
Sie hatte recht. Er hörte nicht ein Wort von dem, was sie sagte, er horchte auf sie, ihre Stimme, ihre Gegenwart, ihre Liebe. Eins dieser ständigen Mißverständnisse, die in allen dauerhaften Ehen vorkommen, dauerhaft, weil sie nicht auf Verständnis bauen, sondern auf Akzeptanz. Und so nahm sie ihm die Tasse ab und redete weiter, weil sie spürte, daß er das brauchte. Erst sprach sie von dem, was passiert war, lenkte dann wie selbstverständlich auf ihre eigenen Probleme über, insbesondere die Wahl von Giovannis nächster Schule, wonach sie auch von anderen Leuten berichtete, Angehörigen und Freunden, und ihm zum Abspann den täglichen Kleinkram schilderte, wie daß Toto einen Vierer in seinem Mathetest bekommen habe und der Klempner wieder nicht gekommen sei. Er drückte sie an sich, während sie sprach, so stark war sein Bedürfnis, das Vibrieren ihrer Stimme an seiner Brust zu spüren und das tröstliche Dahinplätschern ihres Redeflusses in sich aufzunehmen. Sein Herzschlag wurde ruhiger, und er atmete entspannter. Nach einer langen Weile schlief er ein. Im Schlaf spürte er einen kühlen Luftzug an seiner Seite und wußte, daß sie sich sanft aus seiner bärenhaften Umarmung gelöst und die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte.
Die Geschichte von dem Mädchen, das man auf der Autobahn aus einem fahrenden Wagen geworfen hatte, erhielt, da es sich wieder bloß um eine dieser albanischen Nutten handelte und sie nicht einmal tot war, nur eine kleine Meldung im Lokalteil von La Nazione. Vorfälle wie dieser machten keine Schlagzeilen. Sie kamen zu oft vor, und wer nicht von Berufs wegen mit der Verbrechensbekämpfung im Rotlichtmilieu zu tun hatte, reagierte nicht teilnahmsvoller darauf als auf die Hunde, denen zu Beginn der Sommerferien ein ähnliches Schicksal bevorstand. Auf der Wache hatten sie die Meldung ausgeschnitten und dem Maresciallo auf den Schreibtisch gelegt, der eben von einem enttäuschenden Besuch im Grundbuchamt zurückkehrte. Er überflog den Zeitungsausschnitt, als Lorenzini ins Zimmer kam.
»Der Bericht ist für Sie abgegeben worden.«
Der Maresciallo nahm ihn entgegen. »Haben Sie Dori oder Mario unter einer der Nummern erreicht, die ich Ihnen gegeben habe?«
»Mario, ja. Ich hinterließ eine Nachricht, und er hat vor etwa einer Stunde zurückgerufen. Verheiratet sind sie noch nicht, aber das Aufgebot ist bestellt, und mit dem Mädchen hatten Sie auch recht. Dori hatte schon gehört, was mit ihrer Freundin passiert ist. Ich habe die Kopie von Doris Brief an sie in unseren Akten gefunden. Der Name ist… warten Sie, ich hab’s aufgeschrieben, aber ich kann’s nicht aussprechen – N-D-O-K-E-S – Vorname Enkeleda, und sie ist um die achtzehn. Leider hilft uns die Anschrift nicht weiter. Das ist nämlich nur die Kontaktadresse, über die der Transport der Mädchen hierher nach Italien läuft. Als Dori die Kleine kennenlernte, war sie offenbar schon von Zuhause ausgerissen. Ihre Familie, die in irgendeinem Bergdorf im Norden lebt, wollte sie zu einer Heirat zwingen, mit der sie nicht einverstanden war.«
»Dann wird also niemand nach ihr suchen, oder? Für die Familie ist sie schon so gut wie tot. Geben Sie Capitano Maestrangelo die Adresse aus der Lek-Pictri-Akte. Und lassen Sie mir den Namen da, ich rufe im Krankenhaus an und erkundige mich, ob irgendeine Veränderung eingetreten ist.«
Der Zustand des Mädchens war unverändert. Sie hatte das Bewußtsein nicht wiedererlangt. Trotzdem wollte man sie am nächsten Tag operieren. Noch lange, nachdem
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