Nachtblüten
abgespielt hatte. Und auch wenn er das nicht einmal vor sich selbst so recht eingestehen mochte, war er im Begriff, Sara Hirsch den Besuch abzustatten, den er ihr vor ihrem Tode versprochen hatte. Ausgerüstet mit einer schriftlichen Genehmigung und einem Schlüsselbund, kehrte er in die Sdrucciolo de’ Pitti Nummer 8 zurück.
»Also dann…« sagte er in das stumme Wohnzimmer hinein. Was jetzt? Nichts, außer diesem seltsamen Gefühl, das ein Kind beschleicht, wenn es allein im Haus ist. Ein bißchen beängstigend, aber vor allem aufregend. Es ist niemand da, der »Nicht anfassen« sagt, aber auch niemand, der die gruseligen Schatten aus den Ecken verscheucht. Man ist ganz kribbelig angesichts all der lockenden Möglichkeiten; da sind Erwachsenengeheimnisse zu entdecken, verschlossene Schubladen zu öffnen, verstohlene Blicke auf fremde Briefe zu werfen. Kein fremdes Land, kein ferner Planet birgt so viele Geheimnisse wie ein unbeaufsichtigtes Haus, noch dazu eines, in dem ein Mord geschehen ist. Aber ein Tatort, an dem es von Ermittlern und Kriminaltechnikern wimmelt, strahlt nichts von diesem Zauber aus. Man muß allein sein und ganz still, um ein Haus zum Sprechen zu bringen.
Die Läden vor den Wohnzimmerfenstern waren geschlossen. Der Maresciallo knipste das Licht an, musterte aufmerksam das Ledersofa, bis er Sara Hirschs gewohnten Platz gefunden hatte, setzte sich darauf und sah sich um. Rinaldi hatte recht gehabt, als er sagte, daß nichts in dieser Wohnung seinen Anforderungen entsprach. Trotzdem war die Einrichtung gediegen und von guter Qualität. Keine billig nachgemachten Stilmöbel, aber auch keine besonders edle Handwerkskunst. Nirgends eins jener wertvollen Stücke, wie sie in den Antiquitätenläden an der Via Maggio einzeln vor edlen Brokatdraperien ausgestellt waren. Und nichts, von dem der Maresciallo sich hätte vorstellen können, daß Sara es anstelle ihrer Mutter ausgesucht hatte. Außerdem stimmte irgend etwas mit der Anordnung der Möbel nicht. Er saß zweifellos auf Saras Platz. Zu seiner Rechten stand ein Tisch mit einem kleinen Silbertablett, auf dem man sein Glas oder die Kaffeetasse abstellen konnte, während… während was? Während sie las? Das Deckenlicht, ein Lüster mit Glasprismen und einem halben Dutzend kerzenförmiger Leuchten war nicht hell genug zum Lesen, und eine andere Lampe gab es nicht. Also… während was? Während man starr geradeaus auf die Türen eines hohen Eichenschranks blickte? Früher waren die Sitzmöbel meist um den Kamin gruppiert. Heutzutage richtete man sie eher auf den Fernseher aus. Er stand auf und öffnete die Schranktüren. Der Fernseher war ein großer Kasten, auf dem ein Videogerät stand. Auf einem Bord darunter fand er eine Flasche Cognac und einen Cognacschwenker. Mehr allerdings interessierte ihn das, was er auf dem leeren Regal direkt über dem Fernseher nicht fand. Er schloß den Schrank und entschied sich für ein weiteres Gespräch mit Lisa Rossi, dem kleinen Mädchen von oben.
»Ein ganzes Regal voll – na ja, fast ein ganzes Regal. Manchmal haben wir uns zusammen einen Film angesehen, wenn ich mit den Hausaufgaben fertig und meine Mama noch nicht zurück war. Aber sie haben mir nicht so arg gefallen. Viele waren in Schwarzweiß, und die sind immer ziemlich traurig, oder? Weil es nur um früher geht und die Leute von damals. Haben die Videos was mit dem Geheimnis zu tun?«
»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht.«
»Ist es denn wichtig, mein Geheimnis? Ich hab’s niemandem erzählt.«
»Es ist sogar sehr wichtig. Kannst du zeichnen?«
»Nicht besonders. In der Schule kriege ich nie gute Noten im Zeichnen.«
»Aber du könntest die Sachen aus Signora Hirschs Safe zeichnen, die Leuchter zum Beispiel? Versuch’s einfach mal… hier, in mein Notizbuch.«
»Der war ungefähr so… ziemlich flach mit ‘ner Menge Kerzen, aber ich weiß nicht mehr, wie viele genau. Da, er ist ganz schief geworden, ich hab Ihnen ja gesagt, ich kann nicht zeichnen.«
»Das macht nichts. Und die anderen Sachen?«
»Die kann ich bestimmt nicht zeichnen. Da war noch so ein Stoffdings mit Fransen. Ich dachte, es wäre ein Rock, aber sie hat’s nie auseinandergefaltet, und ein kleines Mützchen. Sonst waren, glaube ich, bloß noch Bücher drin. Gezeigt hat sie mir immer nur die Fotos, über die anderen Sachen hat sie nie was gesagt, aber gesehen hab ich sie halt.«
Der Maresciallo zögerte. Auf keinen Fall durfte man einem Zeugen die Antwort auf eine
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