Nachtblüten
Frage suggerieren, aber er mußte noch einmal nachhaken. Wenn alle Videos verschwunden waren, dann mußte es einen Grund dafür geben. Die Diebe mußten gewußt haben, daß eines darunter für sie wichtig war, eines, auf dem etwas anderes drauf war als ein alter Filmklassiker. Mit einem unerwarteten Leichnam in der Diele konnten sie es nicht riskieren, lange danach zu suchen, sondern hatten einfach den ganzen Stapel mitgehen lassen, nur für den Fall, daß der eine Film, auf den sie es abgesehen hatten, nicht im Safe sein sollte. Er durfte sie nicht beeinflussen… Lisa sah ihn ruhig aus grauen Augen an und wartete.
»Und sie hat alle Videos in dem Schrank aufbewahrt, auf dem Regal über dem Fernseher? Du hast nie eins woanders gesehen?« Suggeriere ihr nichts, nenne jeden beliebigen Ort, bloß nicht den Safe. »Vielleicht irgendwo in einer Schublade, Lisa? Manchmal verwahren Leute Sachen, die ihnen wichtig sind, zuunterst in einem Schubfach. Hast du je…«
»Nein! Ich hab nie, niemals hätte ich… Ich will zu meiner Mama!«
Tränen schossen ihr aus den Augen, und ihr blasses Gesicht war plötzlich rot angelaufen. Was hatte er getan? Die Tür hinter ihm stand offen, und er rief laut: »Signora!«
»Was ist passiert? Was um Himmels willen haben Sie zu ihr gesagt?« Das Kind stürzte laut schluchzend an ihm vorbei und verbarg sein Gesicht an der Brust der Mutter.
»Sie hätten es nicht tun dürfen, das wissen Sie doch?« Der Staatsanwalt, den Guarnaccia mit einem brennenden Zigarillo überrascht hatte, rauchte weiter und musterte den Maresciallo ohne eine Spur von Verärgerung. »Immer nur mit einem Elternteil oder wenigstens einem Zeugen im Raum. Wir leben in schwierigen Zeiten, Maresciallo, Zeiten, in denen es uns nicht mehr möglich ist, einem Kind auch nur freundlich über den Kopf zu streichen. Dieses Mädchen könnte wer weiß was erfinden. Sie könnte es nicht beweisen, aber das brauchte sie auch gar nicht.«
»Aber warum um alles in der Welt…«
»Sie hat offenbar etwas zu verbergen, irgendeine lächerliche Banalität, über die Sie zufällig gestolpert sind. Und Sie haben sich in eine Lage manövriert, die das Mädchen auf den Gedanken brachte, es könne Sie für seine Tränen verantwortlich machen, statt die Wahrheit zu gestehen.
Bleibt abzuwarten, ob sie’s wirklich durchzieht. Sie hat nichts Genaueres gesagt, solange Sie dabei waren?«
»Kein Wort. Nur immerzu geweint hat sie. War fast hysterisch. Ich hätte niemals dort rauf gehen sollen. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Sie wären derjenige gewesen… Als ich feststellte, daß die Videos fehlten, hätte ich Sie sofort verständigen sollen. Ich hatte keine Veranlassung… Ich bin kein Ermittler…«
»In diesem Fall sind Sie der Ermittler, Maresciallo, und es ist nur natürlich, daß Sie zu den Leuten raufgegangen sind. Ihr einziger Fehler war, mit dem Kind allein zu sprechen.«
»Ja. Bloß, was sie mir erzählt hat… das über Sara Kirschs Geheimnis… davon hatte sie ihrer Mutter nichts gesagt, also hätte sie auch mit mir nicht weiter darüber gesprochen, wenn…«
»Dann hätten Sie eben einen Carabiniere dazugerufen, einen der Männer von Ihrer Wache – tja, nun ist es zu spät. Wenn Sie jetzt zu zweit auftauchten, würde das arme kleine Ding denken, man wolle sie verhaften für das, was auch immer sie verbrochen zu haben glaubt. Schließlich haben wir es hier mit Mord zu tun, das muß dem Kind ja Angst eingejagt haben, selbst wenn seine kleine Verfehlung eigentlich gar nichts damit zu tun hat. Aber nun fahren Sie fort mit Ihren Ermittlungen. Ich werde mit Signora Rossi reden und die Situation entschärfen. Vertrauen Sie mir.«
Der Maresciallo kehrte auf seine Wache zurück. Er vertraute dem Staatsanwalt, aber er war sehr geknickt. Der Staatsanwalt war ein guter Mann, einer, der als Jugendrichter jahrelang Erfahrung im Umgang mit Kindern gesammelt hatte. Wenn jemand den Schaden wiedergutmachen konnte, dann er. Was dem Maresciallo so zusetzte, war der Umstand, daß er sich selber nicht mehr trauen konnte. Auch er hatte schließlich seine Erfahrungen gemacht in all den Jahren, die er sich nun schon um die Leute aus seinem Viertel kümmerte, hatte ein Vertrauensverhältnis zu ihnen aufgebaut, bis sie in ihm jemanden sahen, an den sie sich mit ihren großen und kleinen Problemen wenden konnten. Darüber hatte er bisher nie groß nachgedacht. Wenn es ihm überhaupt einmal in den Sinn kam, dann beschwerte er sich höchstens über den
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