Nachtblüten
aufzufrischen, aber mit fünfzehn warf er seine Pinsel fort. Er wollte kein Amateur werden und widmete sich statt dessen nun ganz dem Geschäft. Er und sein Vater bauten ein europaweites Handelsnetz auf, das in den späten zwanziger Jahren schwungvoll florierte. Obwohl er noch jung und unerfahren war, gelang es Jacob, dank seines ästhetischen Gespürs und regen Geschäftsgeistes, aus einem besseren Trödelladen, der nur hin und wieder einmal ein anständiges Bild ergatterte, eine renommierte Kunstund Antiquitätenhandlung zu machen, die sich bis in die Gegenwart erfolgreich behaupten konnte. Nach und nach kauften Samuel und Naomi das ganze Haus auf. Wie vormals sein Vater, reiste nun Jacob zwischen Florenz und London hin und her, wo ihre besten Kunden ansässig waren. Samuel unterhielt von Florenz aus Geschäftsbeziehungen mit allen namhaften europäischen Metropolen. Dann kam der Zweite Weltkrieg. 1943 wurden Samuel und Naomi deportiert, und beide kamen in Auschwitz um. Nach dem Krieg beschloß Jacob, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen, das nun Rinaldi übernahm. Vor seinem Tode hatte Jacob eine Stiftung gegründet, deren Statuten Rinaldi den Nießbrauch seines Ladens und der Wohnung im ersten Stock zusicherten.
Während er das erzählte, wanderte Rinaldis Blick immer wieder zwischen dem Capitano und dem Staatsanwalt hin und her, bemüht, ihre Reaktion abzuschätzen und, indem er einen vertraulichen Ton anschlug und unnötige Details einflocht, die Fiktion aufrechtzuerhalten, daß er einzig danach trachte, ihnen behilflich zu sein. Den starren Blick des Maresciallo mied er geflissentlich.
Als Rinaldi geendet hatte, herrschte kurzes Schweigen. Dann dankte ihm der Staatsanwalt.
»Sie waren uns eine große Hilfe. Damit wäre das Rätsel zufriedenstellend gelöst. Nur zwei Fragen hätte ich noch…«
Sehr viel mehr als zwei, dachte der Maresciallo und sah zu, wie Rinaldi abermals die Angströte ins Gesicht stieg.
»Wie gesagt, zweierlei… diese europäischen Kontakte, die Sie erwähnten, könnte da auch Prag dabeigewesen sein?«
»Tja, ich kann natürlich nur wiedergeben, was ich vom Hörensagen weiß. Das war ja alles ein bißchen vor meiner Zeit, aber ich denke schon, ja.«
»Also hätte zu seinen Kontakten beispielsweise auch Sara Hirschs Mutter gehört haben können? Vielleicht hat Jacob auch ihr im Rahmen seiner Stiftung den Nießbrauch ihrer Wohnung zugesichert.«
»Möglich wär’s wohl, aber ich weiß es wirklich nicht. Soweit hat er mich nicht ins Vertrauen gezogen. Verbindlich kann ich Ihnen in der Sache nur Auskunft geben, soweit sie mich persönlich betrifft.«
»Natürlich. War auch nur so ein Gedanke, weil wir kein Mietbuch gefunden haben. Und die andere Sache war – na, was war’s doch gleich, was ich Sie noch fragen wollte – ach, ja! Das Rätsel aller Rätsel. Wo ist Jacob Roth heute?«
»Tot natürlich! Das habe ich doch schon gesagt!«
»Ja, ja richtig. Aber auch die sterblichen Überreste eines Toten müssen doch irgendwo zu finden sein, nicht wahr? Ist er in Florenz gestorben?«
»Kann sein.«
»Ach, Sie hatten wohl mit den Jahren den Kontakt verloren, wie? Sahen sich wahrscheinlich seltener, nachdem er sich aus dem Geschäft zurückgezogen hatte.«
»Ganz recht. Ist ja auch nur natürlich.«
»Gewiß, vollkommen. Trotzdem hat er Sie am Ende nicht vergessen. Wofür Sie ihm sicher dankbar waren. Waren Sie auf seiner Beerdigung?«
Die Frage klang ganz harmlos, aber Rinaldi verschlug es die Sprache, und man sah an seinem flackernden Blick, wie emsig er nach einer unverfänglichen Antwort suchte.
»Ist es schon so lange her, daß Sie sich nicht mehr erinnern können? Ab einem gewissen Alter muß man zu so vielen Beerdigungen – erst letzte Woche ist ein Kollege von mir gestorben, mit dreiundfünfzig, Herzinfarkt –, da wird einem dann bewußt, daß wir alle sterblich sind. Aber wenn Sie sich einen Moment besinnen… Ihr Gedächtnis durchforschen… vielleicht fällt es Ihnen dann wieder ein.«
»Natürlich erinnere ich mich! Ich rede nur nicht gern darüber.«
»Verstehe. Allein, ich bin sicher, daß Sie umgekehrt Verständnis dafür haben, daß wir unter diesen Umständen – immerhin untersuchen wir den plötzlichen Tod der Signora…«
Rinaldi unterbrach ihn und sagte langsam und mit Nachdruck: »Ich bin nicht zu Jacob Roths Beerdigung gegangen.«
»Verstehe. Gut. Ja, ich glaube, dann brauchen wir Sie nicht länger aufzuhalten. Es sei denn, Sie hätten noch Fragen,
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