Nachtblüten
zu Ende gegangen sein, ohne daß er auch nur ein Wort davon mitbekommen hätte. Er entschuldigte sich und öffnete die Tür. »Bitte…« Er trat zurück, wohl merkend, daß Rinaldi Angst hatte, an ihm vorbeizugehen, ja, daß er sich zusammennehmen mußte, um nicht auf Zehenspitzen zu laufen. Als er es dann doch geschafft hatte und eben auf den Flur hinaustrat, tauchte der Maresciallo aus seinem dumpfen Brüten auf und erinnerte sich zu fragen: »Würden Sie mir wohl sagen – wir haben Schwierigkeiten, den Besitzer der Wohnung des Opfers zu ermitteln – und da wüßte ich gern, wem die Ihre gehört? Und der Laden. Ich glaube, irgend jemand erwähnte, Sie selbst seien der Besitzer, ist das richtig?«
Rinaldi wandte sich um. »Ich habe den Nießbrauch an Wohnung und Laden.«
»Aber nicht für das übrige Haus?«
»Nein.«
Der Maresciallo überlegte ein wenig. Er sah, wie sich an Rinaldis Schläfen Schweißperlen bildeten und ihm die Wangen hinunterliefen.
»Es ist sehr heiß, nicht wahr? Selbst nach dem Regen. Wie in einem türkischen Bad. Wie lange haben Sie den Nießbrauch schon?«
»Seit etwa zwei Jahren. Seit den Fünfzigern war ich als Mieter im Haus. Und als der Besitzer starb, trug er Sorge dafür…«
»Oh, gut, gut…«
»Was ist daran gut?« Die beiden anderen waren unterdessen auch zur Tür gekommen, und Rinaldi blickte am Maresciallo vorbei auf sie, als erhoffe er sich von ihrer Seite Rettung. Sie schwiegen.
»Das Gute daran ist«, sagte der Maresciallo, »daß Sie uns sagen können, wer der Besitzer war und ob ihm das ganze Haus gehörte. War es dieser… wie hieß er doch gleich?« Wenn er nur ein Gedächtnis für Namen und Fakten hätte, statt bloß für Bilder und Gerüche! Er hätte lieber den Mund halten sollen, statt sich hier zum Narren zu machen. Seine Vorgesetzten waren so cool und überlegen aufgetreten, hatten nichts preisgegeben, und nun kam er daher und verärgerte den Menschen, indem er ihn aufhielt, ihn ins Schwitzen brachte.
»Roth«, sagte der Staatsanwalt. »Jacob Roth. Das war der letzte Name, unter dem das Haus im Grundbuchamt eingetragen ist.«
»Ah, ja.« Der Maresciallo seufzte erleichtert. »Jacob Roth.«
Der Name schwebte im Raum. Rinaldi war rot angelaufen. Seine Augen verschleierten sich vor Furcht, und er sah aus, als müsse er alle ihm zu Gebote stehende Energie aufbieten, um sich aufrecht zu halten.
»Wenn er Sie in seinem Testament bedacht hat, dann war er wohl ein Verwandter oder zumindest ein Freund?«
»Ach, schenken Sie uns doch noch ein paar Minuten, Rinaldi«, sagte der Staatsanwalt, die falsche Vertraulichkeit beibehaltend. »Das könnte uns ungemein weiterhelfen. Wir wären Ihnen sehr verbunden.«
Wieder mußte Rinaldi sich am Maresciallo vorbeilavieren, dessen Blick ihm folgte und den er offenbar so hartnäckig auf sich haften spürte, daß sein Nacken rot anlief. Er redete, weil ihm keine andere Wahl blieb, aber der Maresciallo hatte den Eindruck, daß er an manchen Stellen seiner Erzählung von einer Version abwich und eine andere wählte, ja, manchmal auch zwei verwarf, bevor er sich für eine dritte entschied. Der Capitano schickte nach einem Carabiniere, der die Aussage protokollieren sollte, und alle setzten sich schweigend, um dem widerwilligen Zeugen zuzuhören. Ungeachtet dessen, was der Maresciallo hinterher sein ›sich Drehen und Winden‹ nannte, konnte Rinaldi nicht umhin, ihnen ein paar handfeste Fakten zu liefern.
Jacob Roth war der Sohn von Samuel Roth, einem Juden aus dem Londoner East End, der mit Antiquitäten und Gemälden handelte und dessen Reisen ihn unter anderem auch nach Florenz geführt hatten, wo er mit den Besitzern des kleinen Ladens in der Sdrucciolo de’ Pitti ins Geschäft kam. Er heiratete sogar deren Tochter Naomi und nahm sie mit sich nach London. Dort wurde ihr einziger Sohn Jacob geboren. Geschäftsund Familienverbindungen wurden durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, und Naomis Eltern starben bei der Grippeepidemie gleich nach dem Krieg. Das junge Paar zog nach Florenz und übernahm den Laden in der Sdrucciolo de’ Pitti. So wuchs der kleine Jacob in Florenz auf, umgeben von den herrlichsten Gemälden der Welt. Er war selbst ein begabter Maler und hätte gern am Liceo Artistico studiert, aber als Sohn eines Händlers mußte man sich zu jener Zeit mit der Grundschule begnügen. Jacob begann schon mit zwölf für seinen Vater zu arbeiten. Eine Zeitlang nutzte er sein Maltalent, um die Bilder im Laden
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