Nachtblüten
Vorwürfe.«
»Nicht direkt. Ich weiß, daß das Unsinn wäre. Es ist nur so ein Jammer, daß sie nie jemand wirklich wichtig genommen hat. Manche Menschen können mit den trivialsten Dingen Aufmerksamkeit erreichen, während andere…«
»Ach, ja. Wissen Sie, das war die treibende Kraft hinter allem, was Jacob getan hat. Andere Jungen konnten studieren, aber nicht der Sohn eines Kaufmanns, andere konnten ihre Zukunft frei wählen, ihre Talente entfalten, aber nicht der Sohn eines Kaufmanns. Jacob hatte Verstand und Begabung. Er wollte malen, aber seit seinem zwölften Lebensjahr mußte er seinem Vater im Laden helfen. Seine Eltern hatten so hart gearbeitet und waren so stolz darauf, ein florierendes Geschäft aufgebaut zu haben, eine sichere Zukunft für ihren Sohn. Nie hätten sie sich die Zukunft vorstellen können, die sie in Auschwitz erwartete, oder die von Jacob, den dasselbe Terrorregime so reich gemacht hatte, daß er ihren kleinen Laden praktisch herschenken konnte. Jacob hatte danach gestrebt, reich zu werden, aber viel mehr noch wollte er nach oben, wollte nicht länger zu denen gehören, die getreten werden, sondern einer von denen werden, die selber austeilen. So hat er seine Pinsel schließlich weggeworfen.«
»Und hätte er wirklich ein großer Künstler werden können?«
»Hätte… könnte… von solchen Spekulationen habe ich nie viel gehalten, Maresciallo. Aber bei seinem Ehrgeiz wäre Jacob wohl in jedem Beruf erfolgreich geworden – wie Picasso, dessen Mutter einmal gesagt hat, wenn er religiös gewesen wäre, hätte er es bis auf den Heiligen Stuhl gebracht. Aber Jacob stellte seine Kraft nicht in den Dienst der Kunst, er nutzte sie für sich selbst, um aus sich das zu machen, was er in seinen und in den Augen der Welt sein wollte.«
»Ja, das habe ich verstanden. Aber konnte er malen?«
»Oh, ja, er konnte malen. Leider habe ich keine Bilder hier, die ich Ihnen zeigen könnte, zumindest kein eigenständiges Werk. In jungen Jahren hat er viel Zeit damit verbracht, nach Art der Florentiner Studenten die großen Meister zu kopieren. Darunter war eine ganz besondere Arbeit… ich bat ihn, sie mir zu schenken, so sehr war ich davon beeindruckt. Bin es noch. Wenn Sie dort neben der Terrassentür das Licht anknipsen wollen, können Sie sich selbst ein Urteil bilden.«
Die Mütze in der Hand, tastete der Maresciallo sich ans andere Ende des vollgestopften Raums vor. In dem schummrigen Halbdunkel stieß er sich die Hüfte an der Ecke eines mit Büchern und Akten beladenen Tisches. Genau wie im Büro des Staatsanwalts, nur daß sich dort die Bücher auch noch auf dem Fußboden türmten. Er sollte wohl lieber aufpassen, wo er hintrat. Die schmalen Lichtstreifen, die zwischen den halb geöffneten Lamellen der Verandatüren hereindrangen, betonten nur die dämmrige Atmosphäre im Zimmer.
»Der Schalter ist links.«
Der Maresciallo betrachtete das Bild, und auch er war beeindruckt.
»Tizians Konzert.«
»Ah, Sie kennen es – aber natürlich, wo Sie doch im Pitti stationiert sind. Das sagten Sie ja, ich hatte es nur wieder vergessen. Da sind Ihnen die Galerien sicher sehr vertraut.«
»Nein, nein… Nur ein paar Bilder… An dieses erinnere ich mich, weil es nach seiner Restaurierung eine Sonderausstellung gab. Und bei solchen Anlässen sind wir für die Sicherheit verantwortlich. Aber – der Jüngling auf der linken Seite, der mit dem Federhut – sein Gesicht ist ja ganz weiß.«
»Ja. Wenn Sie allerdings genau hinsehen, werden Sie feststellen, daß die Züge doch ganz zart angedeutet sind. Jacob sparte die Gesichter immer bis zuletzt auf, weil sie das schwierigste waren, und am Ende hat er weder dieses noch irgendein anderes Bild, an dem er damals arbeitete, fertiggestellt.«
»War das die Zeit, als er die Malerei aufgab?«
»Ja.«
»Und haben Sie dieses Bild als eine Art Vorwurf gegen ihn aufgehängt?«
»Der Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen, aber Sie könnten recht haben. Aber damals habe ich sicher nicht so weit gedacht. Ich war ja nur zweieinhalb Jahre älter als Jacob, hatte gerade mein Jurastudium begonnen. Ich hatte mehr Glück als er. Meine Eltern besaßen etwas mehr Geld als die seinen, und ihre Pläne für mich deckten sich mit den meinen. Ich durfte mir kaum erlauben, ihn zu kritisieren. Damals verstand ich ihn ja nicht einmal. Und wer weiß, ob ich ihn je verstanden habe. Wie wir alle in vergleichbaren Situationen, schmeichelte es mir, der einzige in seinem Leben zu
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