Nachtblüten
Vermögenswerte zu veräußern, insbesondere diejenigen, die Kunstwerke zu verkaufen hatten, und sind dann weitergezogen – nach Amerika, wenn sie es sich leisten konnten.«
Warum fiel es so schwer, danach zu fragen? Und zu wissen, wie die Antwort ausfallen würde, machte es nicht leichter. D’Ancona verstand das offenbar.
»Sie haben Jacob Roth nicht gekannt. Er war ein schwieriger Charakter, ein Enttäuschter, aber er war nicht von Grund auf schlecht.«
»Das ist kein Mensch. Roth hat im Krieg ein Vermögen verdient.« Keine Frage, sondern eine Feststellung, ohne eine Spur von Wertung in Stimme oder Miene.
»Er hat ein Vermögen verdient, ja. Ein stattliches Vermögen. Die Flüchtlinge nahmen mit, was sie tragen konnten. Jacobs Kunden kamen, wie die kleine Ruth, mit aufgerollten Gemälden in den Koffern bei uns an. Sie verkauften ihre Schätze an Jacob und zogen weiter.«
»Er ist damit reich geworden, daß er flüchtenden Juden wertvolle Gemälde zu niedrigen Preisen abkaufte, die er nach dem Krieg vermutlich mit hohem Gewinn weiterveräußert hat?«
»Kriegsgewinnler gibt es in jedem Krieg, Maresciallo.«
»Aber er war Jude!«
»Und deshalb hätte er rechtschaffen bleiben müssen? So wie alle Deutschen Nazis waren?«
»Nein, nein… das ist natürlich lächerlich. Es gibt überall gute und schlechte Menschen. Nein…«
»Aber es fällt Ihnen leichter, sich einen unschuldigen Deutschen vorzustellen als einen schuldigen Juden.«
»Ich… Ja. Wenn Sie damit meinen, ich sei schockiert über das, was Jacob Roth getan hat, ja.«
»Dann, lieber Maresciallo, sind Sie ein Rassist. Schauen Sie, Opfer zu sein, ist ein tragisches Unglück, keine Tugend. Und schon gar keine, die sich durch irgendeine magische Osmose auf eine ganze Rasse überträgt. Diesem Mißverständnis entgegenzuwirken ist zentraler Bestandteil meiner Arbeit. Der ständige Kampf gegen jene emotionale Unreife, die nicht zulassen will, daß die Sünden eines Jacob Roth gleich bewertet werden wie die jedes anderen Menschen. Für mich hat das Individuum Jacob Roth ein großes Unrecht begangen. Für Sie war er ein Jude, der große Schuld auf sich geladen hat. Hier ein Einverständnis zu erzielen, dürfte nicht leicht sein. Also will ich Ihnen nur versichern, daß Jacob nichts Illegales getan hat, und mich im übrigen bei meinen Ausführungen auf das beschränken, was mit Saras Tod zusammenhängt.«
D’Ancona hielt inne, beugte sich über ein Fach auf der rechten Seite seines Schreibtischs und kämpfte mit einem offenbar recht sperrigen Gegenstand.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Nein, ist nur ein bißchen unhandlich«, ächzte der Anwalt, als es ihm endlich gelang, eine längliche Pappschachtel herauszuziehen. »Dies sind die Sachen, auf die Saras Angreifer es abgesehen hatten. Und nach denen, wie ich vermute, auch Sie suchen. Sara hat sie, angeblich auf Ihren Rat hin, mir zur sicheren Verwahrung übergeben.«
»Auf meinen Rat hin… Nun, sie hat auf jeden Fall richtig gehandelt. Ich hätte ihr in der Tat dazu geraten, wenn ich von der Existenz dieser Sachen gewußt hätte.«
»Sie hat Ihnen wirklich nichts davon erzählt? Vielleicht helfen Sie mir mal mit dem Deckel. Der klemmt ein bißchen… dann brauche ich nicht extra aufzustehen… danke, danke. Vermutlich werden Sie überrascht sein, wie wenig spektakulär der Inhalt ist.«
»Nein, nein. Ich habe schon eine Vorstellung davon. Ein kleines Mädchen, ein Nachbarskind, hat mir die Sachen beschrieben. Unter anderem ein paar Fotos, die Signora Hirsch ihr gezeigt hat.«
»Hier.«
Und dann war der Maresciallo doch überrascht, als er unverhofft jenes Foto in der Hand hielt, das er um jeden Preis hatte sehen wollen, die Aufnahme von Saras Eltern, dem dreiundzwanzigjährigen Jacob und der elfjährigen Ruth. Sie sahen genauso aus, wie Lisa sie beschrieben hatte, nur daß dem Kind angesichts der altmodischen Kleidung und der tristen Brauntöne der verblichenen Fotografie entgangen war, daß Jacob Roth nicht nur ein hochgewachsener, sondern auch ein sehr gutaussehender junger Mann war. Die kleine Ruth war dünn und staksig, aber ihre großen dunklen Augen und die feingeschnittenen Züge verhießen künftige Schönheit. Überraschend war ferner, daß es sich, statt des Schnappschusses in einem Stück Seidenpapier oder einem Kuvert, den der Maresciallo erwartet hatte, um eine Vergrößerung handelte, die obendrein gerahmt war. Mit einem jener Florentiner Rahmen, wie sie auf der Piazza Pitti
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