Nachtblüten
einzige, der überlebt hat. Ruth und Umberto, die beiden haben mich am Leben gehalten. Was dein Bild angeht, so blieb es im Zimmer meiner Frau, blieb aber auch Ruths Eigentum. Wir hatten beschlossen, daß es nach dem Tode meiner Frau an sie – oder an dich – zurückfallen sollte. Aber wie du weißt, ist Ruth zuerst gestorben. Meine Frau überlebte sie nur um wenige Monate. Ihr Lieblingsbild vermachte sie unserem Sohn. Er zahlte die Erbschaftssteuern aus ihrem Nachlaß. Das Bild war die einzige Erinnerung an glücklichere Zeiten, die sie behalten hatte. Nicht, weil es mein Hochzeitsgeschenk war, sondern weil ich ihr versichern konnte, daß es nicht zu den… den unehrenhaft erworbenen zählte, deretwegen sie mich verachtete… Wie hätte ich ihr sagen können, daß es der Frau gehörte, die ich liebte, und dir, unserer Tochter?«
Hier unterbrach Jacob seinen Monolog. Seine Blickrichtung wechselte, und eine andere Stimme murmelte irgend etwas im Hintergrund, worauf Jacob den Kopf zur Seite drehte und »Ta« sagte. Dann flimmerten unscharfe weiße Flecken über die Mattscheibe, und mit einemmal war der Bildschirm schwarz.
»Verdammt!« Der Staatsanwalt sprang auf und griff nach der Fernbedienung. »Das kann nicht der Schluß sein. Aber da war offensichtlich ein Amateur am Werk. Hoffentlich ist das Band nicht gerissen.«
Es war nicht gerissen. Jacobs Gesicht erschien wieder auf dem Bildschirm. Er saß jetzt in einem anderen Sessel, und das Bild, das sich vorhin zusehends verdunkelt hatte, war nun merklich heller und schärfer. Rosig geädertes Blattwerk wiegte sich am rechten Bildrand sanft auf und ab, und man erkannte jetzt auch, wie erlesen Jacob gekleidet war, sah seine schmalen, braunen Hände. Offenbar war er in den Garten hinaus gewechselt, vielleicht weil es auf den Abend zuging und das Licht in dem großen Arbeitszimmer nicht mehr hell genug war.
Anscheinend war auch noch eine dritte Person anwesend. Denn jetzt sagte eine weitere Stimme: »So ist’s gut. Aber nichts anfassen. Wenn’s Probleme gibt, dann ruft mich.« Eine junge, fröhliche Stimme, die einer anderen Welt angehörte. Dann trat eine Pause ein.
»Sara, das Unvorhergesehene…« Jacob hielt einen Moment inne und schloß die Augen, und als er weitersprach, blieben die Lider noch sekundenlang geschlossen, als ertrüge er es nicht, in die Kamera und der imaginären Sara ins Gesicht zu schauen. »Das Unvorhergesehene, das mir und meiner Frau widerfuhr, ist etwas, worüber zu sprechen mir sehr schwer fällt. Aber mein Leben neigt sich dem Ende zu, und das letzte, was mir noch zu tun bleibt, ist, dich zu schützen, indem ich dir die ganze Wahrheit offenbare und sie in Umbertos Obhut gebe, bis zu dem Tag, da du sie vielleicht einmal wirst brauchen können.«
Er hustete, senkte den Blick und murmelte etwas. Von hinter der Kamera wurde ihm ein Glas Wasser gereicht. Der Maresciallo erkannte die durchscheinende, altersfleckige Haut, die arthritischen Fingergelenke. Jacob nippte an dem Glas, das er in der Hand behielt, und zwang sich fortzufahren.
»Zehn Jahre nach meiner Heirat erhielt ich einen Brief von einem Mann, dessen Name nichts zur Sache tut. Er ist inzwischen gestorben. In den dreißiger Jahren hatte er mir eine Reihe impressionistischer Gemälde zu einem sehr niedrigen Preis verkauft. Wie deine Mutter war auch er auf der Flucht vor den Nazis. Er und mein Vater hatten viele Jahre miteinander Geschäfte gemacht. Jetzt wandte er sich wieder an mich, weil er und seine Frau alt, krank und mittellos waren. Ich empfing ihn persönlich und führte ihn ins Zimmer meiner Frau, weil sie nicht im Haus und dort keine Störung durch die Dienstboten zu befürchten war. Der Mann war sehr erregt. Als ich ihm eine Entschädigung anbot, die ihm zu gering, ja, kränkend erschien, echauffierte er sich noch mehr, wurde zornig und laut. Aus Angst, daß man ihn hören könnte, bat ich ihn hinaus in den Garten.
›Sie fürchten wohl, es könnte jemand die Wahrheit über Sie erfahren, wie? Ihre Eltern sind eines unvorstellbar grausamen Todes gestorben, aber wenigstens brauchten sie nicht mitzuerleben, wie Sie ihre engsten Freunde bestohlen haben. Wie viele von uns waren es? Wie viele verzweifelte Menschen haben Sie noch um ihr Leben betrogen?‹ ›Ich habe niemanden betrogen. Ich habe bezahlt. Ich habe für alles bezahlt.‹ ›Spottpreise haben Sie gezahlt, Sie unverschämter Mensch!‹ ›Ich habe soviel geboten, wie ich mir damals leisten konnte.‹ ›Sie
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