Nachtblüten
die sollst du auch bekommen. Deine Mutter, meine Ruth, hat niemals Erklärungen, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen verlangt. Wenn ich eine zu geben versuchte, legte sie mir den Finger an die Lippen und schaute mir tief in die Augen, so lange, bis sie mich zum Schweigen gebracht hatte. Du hast ihre Augen, Sara. Schon als ich dich das erste Mal sah, in diesem dämmrigen Empfangsraum des Klosters, schauten mich aus deinem Säuglingsgesichtchen Ruths ernste Augen an. Du schienst mich zu tadeln dafür, daß ich mich zwischen euch drängte und dich um die ungeteilte Aufmerksamkeit deiner Mutter brachte. Beim Klang der fremden Männerstimme verbargst du dein Gesicht in ihrem Haar, und später, als eine der Nonnen dich forttrug, schriest du aus Leibeskräften. Als du gestern von uns gingst, hattest du wieder denselben Gesichtsausdruck. Und da beschloß ich, diese Botschaft an dich vorzubereiten. Ich werde dir die Wahrheit über dein Gemälde sagen, denn es gehört ja dir, und du wirst es zurückbekommen, auf daß du dich daran erfreuen kannst, wenn du eines Tages, was ich sehr hoffe, heiraten und ein sorgenfreies Leben führen wirst. Andernfalls möge es zu deiner finanziellen Absicherung dienen.
Wie du von deiner Mutter weißt, hat sie zwei Monets mitgebracht, als sie damals aus Prag zu uns kam. Einen davon habe ich nach meiner Rückkehr aus England für sie verkauft. Zusätzlich zum Erlös des Bildes überschrieb ich Ruth eine gewisse Summe Geldes und sicherte ihr den Nießbrauch zweier Wohnungen in der Sdrucciolo de’ Pitti, um euch beiden ein Heim und ein kleines Einkommen zu geben.
Bis dahin waren die beiden Gemälde zusammen mit vielen anderen in Umbertos Garten vergraben, damit sie der deutschen Besatzung nicht in die Hände fielen. Nach dem Krieg holte ich eine Reihe von Bildern aus dem Versteck und verkaufte sie. Als ich mit meiner naiven jungen Frau – für sie hatte der Krieg nichts weiter bedeutet als rationierte Lebensmittel und Seidenstrümpfe und daß auf dem Gut ihres Vaters nun statt der Männer Frauen arbeiteten – nach Florenz kam, sah sie dein Bild. Das war die erste einer Reihe unvorhersehbarer Katastrophen. Natürlich hätte sie es niemals zu Gesicht bekommen sollen, aber es wurde mit den übrigen noch bei Umberto verbliebenen Kunstschätzen geliefert, und sie kam im falschen Augenblick dazu… Hätte es etwas geändert, wenn mir rechtzeitig eine plausible Geschichte eingefallen wäre? Daß ich das Bild nur für einen Freund in Verwahrung genommen hätte zum Beispiel? ›Ach, ist das wunderschön!‹ rief sie aus.
›Das sind ja meine Lieblingsblumen‹, sagte sie. ›Schenk es mir, Darling! Das soll dein Hochzeitsgeschenk für mich sein, bitte!‹ Ich hatte Angst. Ich war ein Feigling. Ich sagte ja… Und sie hängte es in das schönste Zimmer im Haus und liebte es ihr Leben lang, mehr als alles, was wir besaßen. Wenn ich an sie zurückdenke, dann denke ich an Licht, Heiterkeit und Blumen. Doch wenn ich auf mein Leben zurückblicke, dann sehe ich Dunkelheit und nur mühsam in Schach gehaltene, alptraumhafte Gespenster. Alles, was ich tat, diente nur dem Versuch, dieser anderen, ihrer Welt teilhaftig zu werden. Heute weiß ich, daß all mein Streben zum Scheitern verurteilt war. Man muß in ein solches Leben hineingeboren werden, darf nie ein anderes gekannt haben, um so zu sein wie meine Frau.
Ich sagte Ruth, was geschehen war. Ich bot ihr den Preis für das Bild. Ich bot ihr an, ein anderes, noch wertvolleres aus meinem Besitz für sie zu verkaufen. Aber sie lehnte ab. Sie wollte kein Geld. Sie hatte ihre Familie verloren und ihre Heimat, hatte alles verloren bis auf das, was sie in diesem einen Koffer mit nach Florenz gebracht hatte. Sie verlangte nichts und sie nahm nichts außer dem Nötigsten, um deine Zukunft zu sichern. Als ich sie fragte, warum sie mir nicht gesagt hätte, daß sie schwanger war, bevor ich nach England ging, wo ich dann bis zum Ende des Krieges nicht mehr weg konnte, antwortete sie: ›Ich war erst siebzehn. Warum hast du mich nicht gefragt?‹ Deine Mutter war eine stolze Frau, liebe Sara. Und sie hat mich bedingungslos geliebt. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, dich zu benutzen, um mich zu einer Heirat zu bewegen, obwohl ich, als ich sie wiederfand, doch erst verlobt war. Ich glaube, nein, ich bin sicher, sie wußte, worum es in meiner Ehe ging. Sie wußte auch, daß ich sie liebte und sie nie verlassen würde. Sie war ein Teil von mir. Und am Ende der
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