Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachtbrenner

Nachtbrenner

Titel: Nachtbrenner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Myra Çakan
Vom Netzwerk:
Er bückte sich nach der Mundharmonika. Er hatte ein Ziel.

    Nach drei mühevollen Wochen fand Neil das Lager, in dem Blues untergebracht worden war. Drei Wochen, in denen er wie ein unsichtbarer Schatten lebte.
    Seit zwei Tagen beobachtete er nun schon das Lager, versuchte, einen Plan zu machen, seinen Freund rauszuholen. Heute Nacht musste er es riskieren. Am Morgen hatte er den Schwarzen entdeckt, wie er aus einer der Wellblechbaracken geschlurft kam, hatte sein Gesicht gesehen, die Resignation. Heute Nacht, und dann ein paar Stunden bis zu den nächsten Gleisen, den Gleisen nach Süden.
    Das Lager war weder gesichert noch beleuchtet; wer hier erst einmal angekommen war, der blieb für immer. Neil hatte seine Sachen versteckt, geduckt schlich er über das Gelände, verschmolz mit der Nacht, drückte lautlos ein Fenster ein.
    »Aufwachen, ich bin’s«, flüstert er und schüttelte den Freund an der Schulter.
    »Hast dir ’ne komische Zeit für ’nen Besuch ausgesucht, Junge.«
    »Kein Besuch, Blues, wir verschwinden von hier, wir gehen nach Süden, zu meinen Freunden, den Hobos.«
    »Da ist nichts, nur die verbotene Zone«, sagt der alte Mann mürrisch.
    »Du hast selbst gesagt, da könnte auch die Zukunft sein. Schon vergessen?«
    »Vergess viel in letzter Zeit, werde wohl alt.« Unbewusst tastet seine Hand nach der Brusttasche seines Overalls.
    »Hab dir was mitgebracht«, sagt der Junge und drückt ihm die Mundharmonika in die geballte Faust. »Komm jetzt, Blues.«
    »Gib endlich Ruhe, ich komm ja schon«, brummt er, doch Neil weiß, er grinst. »Hab dir noch nie was abschlagen können. Steh sogar mitten in der Nacht auf für dich.«
    »Gib’s zu, ohne mich, hast du dich doch gelangweilt.«
    »Kann sein, kann nicht sein, Junge. Machen wir, dass wir weiterkommen, bevor sie dich auch noch zum Einchecken in diesem Luxushotel überreden.«

    Sie laufen bis zum Stadtrand, erreichen die rostigen Gleise, atemlos. Da hört Neil das schrille Pfeifen, es klingt genauso wie in den Liedern der Hobos.
    »Ist der Mitternachtszug, Junge, ich erkenn ihn am Pfeifen der Lokomotive«, lacht Blues, auch atemlos, doch die Augen voll Leben. »Kriegen wir ihn in der Kurve, wo er langsam wird, und springen auf.«
    Der Junge rennt schneller, ungläubig, die Gitarre schlägt ihm bei jedem Schritt in den Rücken. Dann liegen sie zusammen in dem offenen Güterwaggon, einer von Hunderten, fahren nach Süden, in die verbotene Zone, die vielleicht Vergangenheit und vielleicht Zukunft ist. Tschik, tschak, tschik, tschak, machen die Räder, als sie über die Gleise rumpeln, und Blues zieht seine Harmonika hervor und spielt ihn, diesen unverwechselbaren Sound, der wie das weite Land, wie die Freiheit klingt.

Echtzeit

    Drei Uhr morgens auf der Interstate. Verbrannte Erde, verbotene Zone, Freihandelsgebiet selbständiger Unternehmer und Schmuggler. Das Jagdrevier der Greifer. Nicht mehr ganz Nacht und doch noch nicht Morgen. Drei Uhr morgens auf der Interstate, alles war möglich.
    Ric duckte sich in den Konturensitz. Noch siebenhundert Meilen, und keine Greifer in Sicht. Er stieß den Atem aus. Viel zu früh, um locker zu werden. Die Straße war ein Tier, eine Schlange, die sich unter dem Druck der Räder wand. Wachsam, bereit, ihn zu verschlingen. Aber so war das Spiel, und nur das hielt die Spannung drin. Drei hatten sie allein in der letzten Woche erwischt. Das Spiel wurde riskant. Gut. Solange er drin blieb, solange er jung war und seine Reflexe voll da. Es waren nicht mehr viele von seiner Art unterwegs, die wenigen, die das Talent hatten, lebten viel zu schnell und hart, brannten aus, falls die Trucks sie nicht schon vorher einholten.
    »Nur ein kleines Päckchen, kein Problem für einen erfahrenen Roadrunner wie dich.«
    Dacko wurde alt, Dacko redete zuviel. Einmal noch die Tour machen, und dann in der Sonne sitzen, sich die Joints reinziehen. Dacko wurde leichtsinnig. Das war schlecht fürs Geschäft, Rics Geschäft.
    Die Straße war zeitlos, die Straße war real, unveränderlich wie ihre Gesetze. Ric schob mit der rechten Hand ein Tape in den Recorder. Er brauchte nicht hinzusehen, er spielte nur eine Musik – die Musik der Straße: hart und schnell. Er schob die Lautstärke bis zum Anschlag hoch, wurde ein Teil des Beats, wie er bereits Teil des Wagens, Teil der anonymen Dunkelheit war.
    Er drückte das Gaspedal runter. Der aufgemotzte Toyo knallte wie ein Geschoss in die Nacht, yeah. Ric dachte an Dackos Päckchen und grinste.

Weitere Kostenlose Bücher