Nachte des Sturms
einen möglichst großen Bogen um ihre Freundin und flüchtete hinüber in den Pub.
»Sie würde den ganzen Tag in irgendwelche Spiegel gucken, wenn sie die Wahl hätte«, bemerkte Shawn verächtlich. »Willst du vielleicht was essen?«
»Dad und ich nehmen jeder einen Teller von dem Eintopf. Riecht wirklich lecker.« Sie trat an den Topf und wollte sich gerade bedienen, als Shawn sich zwischen sie und seinen heiß geliebten Herd schob.
»Lass mich das lieber machen. Du bist tatsächlich immer noch ziemlich dreckig.«
»Na gut. Außerdem hätten wir beide gerne eine Tasse Tee. Und, ah, ich müsste nachher noch kurz mit dir reden.«
Er blickte über seine Schulter. »Warum reden wir nicht einfach jetzt?«
»Ich würde lieber mit dir reden, wenn du weniger zu tun hast. Falls es dir recht ist, komme ich einfach nach deiner Mittagsschicht noch mal vorbei.«
»Du weißt, wo du mich findest.« Er stellte die Teller und die Becher auf ein Tablett.
»Natürlich.« Sie nahm ihm das Tablett ab und trug es in die Nische, in der ihr Vater bereits saß.
»So, Dad. Zwei Riesenteller frisch gekochter Eintopf.«
»Riecht wirklich himmlisch.«
Mick O’Toole war ein Zwerg von einem Mann, klein und kompakt, mit dichtem, drahtigem, sandfarbenem Haar und lebhaften Augen, deren Farbe sich wie die des Meeres irgendwo zwischen Grün und Blau bewegte.
Er hatte ein Lachen, das klang wie das Schreien eines Esels, Hände wie ein Chirurg und eine Schwäche für romantische Geschichten.
Und er war Brennas große Liebe.
»Wirklich schön, jetzt gemütlich hier im Warmen zu sitzen, findest du nicht auch, Mary Brenna?«
»Allerdings.« Sie tauchte ihren Löffel in den Eintopf und blies vorsichtig in die dampfend heiße Brühe, obgleich sie wegen des aufsteigenden verführerischen Duftes am liebsten das Risiko in Kauf genommen hätte, sich die Zunge zu verbrennen.
»Warum erzählst du mir nicht, während wir behaglich hier zusammensitzen und uns die Bäuche voll schlagen, was dich bedrückt?«
Er sah ganz einfach alles. Manchmal empfand Brenna diese Fähigkeit als tröstlich, manchmal aber auch als ein wenig lästig. »Ich habe keine echten Sorgen. Aber weißt du noch, wie du mir erzählt hast, was dir passiert ist, als du ein junger Mann warst und deine Großmutter starb?«
»Allerdings weiß ich das noch. Wie jetzt war ich hier im Gallagher’s . Natürlich stand damals noch Aidans Vater hinter der Theke. Das war lange, bevor er zusammen mit seiner Frau nach Amerika ausgewandert ist. Du warst noch nicht viel mehr als ein Wunsch in meinem Herzen und ein Lächeln in den Augen deiner Mutter. Ich war dort, wo jetzt Shawn ist, nämlich hinten in der Küche. Ich reparierte den Abfluss, der schon seit Wochen leckte.«
Er machte eine Pause, um den Eintopf zu probieren und betupfte sich anschließend die Lippen, wie es ihm seine Frau als Freundin guter Tischmanieren unerbittlich antrainiert hatte.
»Ich hockte also auf dem Boden, hob den Kopf und sah plötzlich meine Großmutter in einem geblümten Kleid und einer weißen Schürze. Sie lächelte mich an, aber als ich etwas sagen wollte, schüttelte sie stumm den Kopf, hob wie zum Abschied ihre Hand und löste sich in Luft auf. In
dem Augenblick wurde mir klar, dass sie von uns gegangen war, und dass das, was ich gesehen hatte, ihr Geist war, der sich von mir hatte verabschieden wollen. Wir beide hatten immer eine besonders innige Beziehung.«
»Ich will dich nicht traurig machen«, murmelte Brenna.
»Nun.« Mick atmete hörbar aus. »Sie war eine wunderbare Frau und hatte ein gutes und langes Leben. Aber deshalb haben wir Zurückgebliebenen sie nach ihrem Tod nicht weniger vermisst.«
Brenna erinnerte sich auch noch an den Rest der Geschichte. Daran, wie ihr Vater seinen Arbeitsplatz verlassen hatte und in Richtung des kleinen Hauses gelaufen war, in dem seine seit zwei Jahren verwitwete Großmutter allein gelebt hatte. Daran, dass er sie in der Küche gefunden hatte, in ihrem geblümten Kleid und in der weißen Schürze. Daran, dass sie ruhig und friedlich dahingeschieden war.
»Es scheint«, sagte sie jetzt vorsichtig, »als würden auch die Verblichenen manchmal jemanden vermissen. Wie zum Beispiel Lady Gwen. Ich habe sie heute Morgen im Faerie Hill Cottage gesehen.«
Mick nickte und schob sich näher an Brenna heran, als sie ihm von ihrem morgendlichen Erlebnis berichtete.
»Armes Mädchen«, sagte er am Ende des Berichts. »Sie wartet inzwischen schon so lange darauf, dass
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