Nachtengel
ihr.
Sie kannte Lincoln. In der Zeit, als sie sich noch kein Auto leisten konnten, war sie oft mit Nathan hierher gekommen. Am Ende der Hauptstraße konnte sie einen Bus nehmen, mit dem sie in zwanzig Minuten bei Jenny Bishop war. Das würde ihr genug Zeit geben, darüber nachzudenken, was sie tun wollte und welchen Ausgang des heutigen Besuchs sie sich wünschte.
Als der Bus sich durch die Stadt schlängelte, bemerkte sie wieder, wie schön sie war. Still und alt, ohne Sheffields hektische Geschäftigkeit. An der Ecke der Garden Road, der Straße, in der Nathan zur Welt gekommen und aufgewachsen war, stieg sie aus. »Ich bin so dankbar, dass Ed und ich das Haus nicht verkauft haben, als Nathan auszog«, hatte Jenny in der Zeit, als sie noch glaubte, Roz werde vielleicht zurückkommen, mehr als einmal gesagt, wenn sie mit ihr telefonierte. »Es ist ein Ort, den Nathan wiedererkennen kann.«
Sie konnte das Haus sehen und erinnerte sich an ihren ersten Besuch in der gepflegten Doppelhaushälfte mit ihrem kleinen Vorgarten und einem von schmalen Beeten umgebenen Rasen. Die Gartenmauer war niedrig und hatte ein schmiedeeisernes Tor. Es war Frühling gewesen, als Nathan sie zum ersten Mal hierher gebracht hatte. »Sei doch nicht so nervös«, hatte er gesagt, als sie zusammen die Straße entlanggegangen waren.
»Und was ist, wenn sie mich nicht mögen?« Diese gepflegte Straße hatte Roz an die Elternhäuser einiger Schulkameradinnen erinnert, deren Mütter mit sanfter Stimme, schmalen Augen und kritischen Blicken Roz beobachteten, ob sie Anzeichen schlechter Erziehung zeigte.
»Na und, was macht es, wenn es so wäre?«, hatte Nathan fröhlich gesagt und ihre Ängste abgetan.
Das Haus sah kleiner aus, als sie es in Erinnerung hatte, und schäbiger, als sei es zu lange nicht mehr gestrichen und die Regenrinnen nicht erneuert worden, und als fehle die ständige Arbeit, Sorgfalt und Wartung, die ein Haus braucht. Jemand stand an der Tür, genau wie auf dem Bild, das sie noch im Kopf hatte, er stand da, sah aber nicht auf die Straße, sondern auf irgendetwas im Garten. Sie beobachtete ihn, während sie die Straße entlangging, fasziniert von seiner vollkommenen Konzentration. Er war groß und schwer. Sein Gesicht aufgedunsen, das Haar am Scheitel etwas schütter. Er bemerkte sie nicht, bis sie am Tor war. Das Quietschen der Scharniere ließ ihn aufblicken.
Da lächelte er ihr zu, und als die Lachfältchen um seine Augen erschienen, verschmolzen Vergangenheit und Gegenwart und dieser ziemlich untersetzte, unfrisierte Fremde verwandelte sich in Nathan. Es war, als hätte sie einen Schlag in die Magengegend bekommen. Sie blieb stehen und sah ihn an, wartete einen Augenblick, ob die Erinnerung an sie sein Gesicht erhellen würde.
»Nathan«, sagte sie.
Er schien ratlos. »Suchen Sie Mum? Sie ist hier irgendwo.«
»Wie geht's dir, Nathan?« Er sah verlegen aus, ein junger Mann, der überlegte, wie er einer der Freundinnen seiner Mutter auf höfliche Art und Weise sagen könnte, dass er keine Ahnung habe, wer sie sei. Roz sagte schnell: »Mach dir keine Gedanken. Wir waren … du kennst mich nicht.« Und das stimmte. In seinem Bewusstsein war er etwa achtzehn. Er hatte Roz nie kennen gelernt und würde sie jetzt auch nie mehr treffen. Die Zukunft war endgültig vorbei. Körperlich sah er älter aus, denn seit seiner Krankheit waren seine Bewegungen von einer gewissen Schwere und Unbeholfenheit. Aber das Gesicht war trotz der schütteren Haare und der tieferen Falten um Mund und Augen merkwürdig jung.
Seine Miene erhellte sich. »Ich rufe Mum«, sagte er. »Kommen Sie rein.« Er drehte sich um und ging zum Haus, aber sein Blick blieb an dem haften, was er vorher betrachtet hatte. Roz sah ihm über die Schulter. Eine Spinne zog die Fäden ihres Netzes zwischen einem Busch und der Wand, und er schaute gespannt und aufmerksam zu.
Schweigend beobachteten beide eine Weile die Spinne. »Sie ist schön«, sagte Roz.
Er sah sich um. »Tut mir Leid«, sagte er freundlich lächelnd. »Ich habe Sie nicht gesehen. Suchen Sie Mum? Sie ist hier irgendwo.«
Roz kam ihr Lächeln wie festgefroren vor. »Ist schon gut«, sagte sie. »Sie erwartet mich. Ich finde sie schon. Lass dich nicht stören.«
Er lächelte ihr fröhlich zu, und einen Augenblick sah ihr Mann sie mit den Augen eines Fremden an. »Es macht mir nichts aus«, sagte er.
Als sie durch die Tür gingen, hörte sie Schritte auf der Treppe, und Jenny Bishop kam eilends
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