Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
Vom Netzwerk:
aufschwang und dann wieder in einer zarten Melodie verebbte, fing er Roz' Blick auf und lächelte ihr in der gemeinsamen Freude an der Musik zu. Einen Augenblick glaubte sie, bei ihm ein Erkennen wahrzunehmen. Er war von der Musik gefangen, dem Augenblick und den sich entwickelnden Passagen. Genauso versunken und hingegeben hatte er die Spinne beobachtet. Sie sah Jenny an. Das Gesicht ihrer Schwiegermutter wurde immer angespannter.
    Jenny hoffte, dass Nathan unter dem Einfluss der Musik, ganz gleich, wie sich diese Anregung auf sein beschädigtes Gehirn auswirken mochte, sein Gedächtnis wiederfinden möge. Roz saß still da, als sich die komplizierten, vielschichtigen Muster der Musik ausbreiteten, die sie nur zum Teil verfolgen konnte. Als sie ausklangen, beobachtete sie Nathan. Seine Augen waren ruhig, er war auf den Klang konzentriert. Er schien mit den beiden Frauen im Raum in Kontakt zu sein, sah sie gelegentlich an und war sich ihrer Anwesenheit bewusst. Als die Musik zu Ende war, schien er sich zurückzuziehen, aber sein Ausdruck stiller Versunkenheit änderte sich nicht. Und sie erkannte, dass Nathan noch da war, dass es den Mann, den sie geliebt und geheiratet hatte, noch gab, obwohl er sie nicht mehr erreichte und sie ihn auch nicht mehr erreichen konnte.
    Nach einer Weile begann er wieder, rastlos hin und her zu gehen, runzelte verwirrt die Stirn, wenn er Roz ansah. Es wiederholte sich die ständige Fragerei, die in einer bestimmten Absicht begonnenen Handlungen, die aber vor ihrer Durchführung wieder abgebrochen wurden. Jenny saß regungslos in ihrem Sessel. Dann nahm sie Nathans Hand und zog ihn mit sich aus dem Zimmer. »Geh und sieh im Garten nach dem Rechten, Nathan«, sagte sie. Sie betrachtete Roz. »Im Garten ist er ruhiger.« Roz sah die stille Gestalt vor sich, die der Spinne beim Weben ihres Netzes zugesehen hatte. Sie konnte nichts sagen.
    Jenny sah Roz an. »Morgen muss ich ihn ins Heim zurückbringen. Mir graut davor. Er weiß nicht, warum ich ihn dorthin bringe – er erkennt es nicht wieder. Für ihn ist es so, als brächte ich ihn an einen Ort, wo er noch nie war, und als ließe ich ihn bei Menschen zurück, die er nie gesehen hat. Nächstes Wochenende hole ich ihn nach Hause, und er wird vergessen haben, dass er je weg war.«
    »Ich wünschte …« Roz wusste nicht, was sie wünschte.
    »Du kannst nicht mehr tun«, sagte Jenny, »als das, was du schon getan hast. Selbst wenn du manchmal auf ihn aufpassen würdest, wäre es nicht besser. Er kennt dich nicht und wird dich auch in Zukunft nicht erkennen.«
    »Ich könnte manchmal herkommen und mich um ihn kümmern.« Roz war sich nicht sicher, ob sie das ernst meinte.
    Jenny schüttelte den Kopf. »Es ist leichter für ihn in der vertrauten Umgebung, aber er würde immer wieder eine Fremde im Haus treffen. Es könnte gefährlich werden. Er scheint jetzt ruhig, aber manchmal bekommt er Panik. Du weißt ja, was damals passiert ist.« Die Faust schlug nach ihr, sie klammerte sich verzweifelt an das Geländer, taumelte auf der Treppe … »Danke, dass du gekommen bist, Roz«, sagte Jenny. »Wir haben es versucht. Ich musste es probieren. Das verstehst du doch?« Roz nickte schweigend, ihrer Stimme vertraute sie nicht. »Du brauchst nicht wieder herzukommen«, fuhr Jenny ruhig fort. »Du kannst gerne kommen, natürlich, aber es ist wahrscheinlich besser, wenn du es nicht tust.«
    Roz holte tief Luft. »Du weißt ja, dass ich immer die Verantwortung übernehmen werde, wenn …«
    »Wenn ich sterbe?« Jenny verzog das Gesicht. »Die Leute im Heim verstehen Nathan. Solange er dort bleiben kann …«
    Es war letzten Endes so wenig, was Jenny Bishop von ihr verlangte, um das Versprechen einzulösen, das sie Nathan gegeben hatte. In guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und Gesundheit … Ich werde die Kosten für dein Leben im Heim tragen. Es tut mir Leid, sagte sie zu sich selbst bei dem Gedanken an den Nathan von damals, an dem Tag, als sie heirateten. So habe ich es damals nicht gemeint, damals nicht.
    Als sie wegging, war es schon spät, fast neun Uhr. Sie lehnte Jennys Angebot ab, sie zum Bahnhof zu fahren. Es hätte bedeutet, dass Nathan der verwirrenden Situation im Auto ausgesetzt würde. Als sie zum Bahnhof kam, stellte sie fest, dass sie gerade einen Zug verpasst hatte und fünfundvierzig Minuten warten musste. Sie holte sich einen Kaffee vom Automaten und erinnerte sich, dass sie nur wenig Bargeld hatte. Sie überlegte, ob

Weitere Kostenlose Bücher