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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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eine Woche lang gebraucht, bis sie herausgefunden hatte, wo sie sich aufhielten, und dann hatten Jenny und Ed drei Tage lang verzweifelt versucht, einen Flug nach Hause zu bekommen. Als sie zurückkamen, war Nathan nicht mehr in Lebensgefahr, aber der Sohn, den sie geliebt und auf den sie so stolz gewesen waren, hatte sich verändert. Roz dachte manchmal, dass Jenny sich die Schuld daran gab, und glaubte, wenn sie in diesen entscheidenden Tagen hier gewesen wäre, hätte sie vielleicht verhindern können, dass sich Nathans Bewusstsein so verwirrte und auflöste.
    Und dann war Nathans Vater, ein gesunder Mann von zweiundsechzig Jahren, im darauf folgenden Jahr gestorben. Er hatte unverhofft einen schweren Herzanfall erlitten. Danach hatte Jenny Bishop sich verändert. Roz hatte sie bei ihrem ersten, etwas aufgeregten Besuch als intelligente, witzige Frau kennen gelernt, aber jetzt wurde sie alt. Wenn ihr Sohn seine Vergangenheit verloren hatte, dann hatte Jenny ihre Zukunft verloren. Sie hatte die schwache Hoffnung – weil ja nichts unmöglich ist –, dass Nathan eines Tages als der nach Hause zurückkommen würde, der er früher gewesen war. Diese unerschütterliche Hoffnung war es, die Roz erschreckt hatte.
    Roz hielt beim Griff zum Hörer inne. Sie musste fahren. Es ging nicht nur darum, auf Jennys Appell zu reagieren. Sie musste endlich für sich selbst eine Entscheidung treffen, sich endlich von ihrer Ehe lösen, um ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. Sie erinnerte sich an Lukes Stimme in der Abenddämmerung: »Menschen werden krank oder alt, sie sterben. Doch man muss weitergehen.«
    Sie sah die Abfahrtszeiten der Züge nach. Es gab einen, den sie erreichen und vor Mittag dort sein konnte. Der Gedanke an die Fahrt bedrückte sie, und ihr graute vor dem Tag, der ihr bevorstand. So eilte sie zur Bushaltestelle, um zu sehen, ob es vielleicht einen Streik der Busse oder Bahnen oder sonst irgendeinen anderen Ausweg für sie gab.
    Als sie zum Bahnhof kam, hatte sie nur noch ein paar Minuten Zeit, entschuldigte sich bei den Wartenden, drängelte sich vor und kaufte ihre Karte. Sie hatte wenig Bargeld dabei, bezahlte mit ihrer Kreditkarte und war dankbar, dass der Zug vom nächstliegenden Gleis abfuhr und sie nicht über den Steg laufen musste. Der Zug stand schon da, zwei klapprige Wagen mit harten Bänken. Er war voll besetzt, und Roz musste sich ans Ende einer Sitzbank neben drei andere Fahrgäste quetschen. Sie saß unbequem gegen eine Metallstange an der Rückseite des Sitzes gepresst. Immer mehr Leute stiegen ein, und es gab nur noch Stehplätze.
    Der Zug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, und Roz versuchte abzuschalten. Sie würde über eine Stunde in diesem Wagen festsitzen und wollte nicht an den vor ihr liegenden Tag denken. Der gestrige Abend kam ihr in den Sinn, die Gestalt, die sie kurz durch die Glastür gesehen hatte, und wie überzeugt sie gewesen war, dass ihr jemand im Paternoster nach unten gefolgt war. Marcus Holbrook. In ihrer Panik hatte sie ihn völlig vergessen. Warum war er nicht gekommen?
    Während der Zug rüttelnd und klappernd durch die ländliche Gegend fuhr und an allen kleinen Orten zwischen Sheffield und Lincoln anhielt, schloss sie die Augen. Als sie an ihrer Haltestelle ankamen, nahm sie ihren Mantel und dachte, sie sei eigentlich für dieses Wetter nicht warm genug angezogen. Sie hatte mit dem Auto fahren wollen und ihre leichten Schuhe und die dünne Regenjacke nur der Bequemlichkeit halber, nicht zum Schutz vor dem Wetter mitgenommen.
    Sie sah auf die Uhr. Gerade zwölf vorbei. Der Zug war pünktlich. Ihr Widerwille, weiterzugehen, war so stark wie die Versuchung, umzukehren und mit dem nächsten Zug zurückzufahren. In den letzten beiden Jahren hatte sie die Situation ohne jeden Kontakt zu Nathan gut bewältigt. Zwar hatte sie Schuldgefühle, konnte aber damit zurechtkommen. Warum also sollte sie sich jetzt der denkbar schlimmsten Tortur unterziehen?
    Weil ihre immer noch bestehende Bindung zu Nathan das zerstört hatte, was sie vielleicht mit Luke hätte haben können. Es spielte keine Rolle, dass es eine Freundschaft war, die beste, die sie je erlebt hatte, oder ob es mehr hätte sein können. Wegen Nathan und der Angst davor, sich wieder auf jemanden einzulassen, hatte sie sich zurückgezogen, hatte Luke aus Gründen, die er damals nicht hatte verstehen können, von sich gestoßen. Und jetzt waren sie nur noch Kollegen, oder nicht einmal mehr das. Er fehlte

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