Nachtengel
sich an Rafiq, die sie ratlos und ohne etwas zu begreifen beobachtete. Lynne überlegte, dass Rafiq die Nummer auch deshalb nicht aufgeschrieben hatte, weil sie wahrscheinlich wenige Anrufe erledigte, da ihr Englisch zu schlecht war. »Wer hat das geschrieben?«, fragte sie.
Rafiq schien besorgt. »Matthew Pearse«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Er manchmal schreibt Nummern.«
Pearse. Je eher sie noch einmal mit Matthew Pearse sprachen, desto besser. »Wann kommt er wieder, Mrs. Rafiq?«, fragte sie.
Rafiq wickelte die Fransen ihres Schals um ihre Hand. »Heute Abend«, sagte sie. »Spät.«
»Und wo ist er jetzt?« Lynne überlegte, ob es sich für Farnham lohnen würde, ihn suchen zu lassen.
Rafiq schüttelte den Kopf, sie wisse es nicht. Lynne beschloss, etwas mehr Druck auszuüben. »Mrs. Rafiq, ich verstehe, dass Sie hier wichtige Arbeit machen.« Sie wies auf die Tür, um anzudeuten, dass sie die Wartenden und die Zeichen von Armut und Bedürftigkeit gesehen hatte. »Aber Sie müssen sich an die Gesetze halten.« Rafiq antwortete nicht. »Ich glaube, dass Anna Krleza zu dieser Beratungsstelle hier gekommen ist, Mrs. Rafiq, und zwar vor etwa sechs Monaten. Ich möchte wissen, ob sie seitdem hier gewesen ist und ob sie in letzter Zeit hier war.« Die Frau schwieg weiter, hörte sich aber an, was Lynne zu sagen hatte. »Mrs. Rafiq« – Lynne sah ihr direkt in die Augen, um sicher zu gehen, dass sie ihr mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuhörte – »ich untersuche einen Mordfall.« Sie ließ die Worte in der Stille wirken. »Ich weiß nicht, was hier los ist. Aber wenn Sie mir etwas verschweigen, könnten Sie in ernsthafte Schwierigkeiten geraten.« Sie bemerkte die Anspannung der Frau und zog die Schraube noch etwas fester an. »Es könnte auch Ihren Sohn betreffen, Mrs. Rafiq.«
»Es …«, fing Rafiq an zu sprechen, dann hielt sie inne. Lynne glaubte, Angst in ihren Augen zu sehen.
»Ich kann Ihnen helfen«, sagte Lynne. »Wenn Sie mir helfen, kann ich Ihnen auch helfen.« Sie sah die Unsicherheit auf dem Gesicht der Frau, während sie Lynnes Worte abwägte.
»Sechs Monate …«, deutete Rafiq an. »Ich nicht hier.« Sie war vor sechs Monaten noch nicht hier. Lynne überlegte schnell. Rafiq wusste etwas, da war sie ganz sicher. Lynne konnte sie richtig unter Druck setzen, sie mit aufs Revier nehmen und einem offiziellen Verhör unterziehen, aber wenn Rafiq in irgendwelche dubiosen Sachen verwickelt war, dann würde das katastrophale Folgen für sie haben. Wenn Lynne die Frau überzeugen konnte, ihr zu vertrauen, könnte sie die Informationen bekommen, die sie brauchte, und Rafiq vor den Folgen schützen. Und Rafiq wäre eine brauchbare Kontaktperson. Sie riskierte es. »Überlegen Sie es sich gut, Mrs. Rafiq. Wenn Sie mir sagen, was Sie wissen – vielleicht ist es ja sehr wenig –, wenn Sie es mir erzählen, werde ich Ihnen helfen, ich verspreche es. Denken Sie darüber nach.« Sie schaute Rafiq in die Augen und ließ das Schweigen wirken. »Sie können mich hier erreichen.« Sie gab Rafiq ihre Karte und stand auf. »Wenn ich nichts von Ihnen höre, werde ich wiederkommen. Ich muss mit Anna Krleza sprechen.«
Sie rief auf dem Weg zum Auto Farnham an. Er musste über Pearse informiert werden.
Lincoln, Samstagnachmittag
Roz verbrachte den Nachmittag mit Nathan und seiner Mutter. Nathan schlenderte ruhelos umher, alles, was er anfing, war fast schon vergessen, bevor er sich seiner Absicht bewusst wurde. Jedes Mal, wenn er ins Zimmer zurückkam, fragte er, wer Roz sei und was sie hier tue. Jedes Mal, wenn sein Blick auf seine Mutter fiel, brachte er seine Sorge über ihr Aussehen zum Ausdruck. Jenny Bishop war in seinen Augen über Nacht um zehn Jahre oder mehr gealtert. Einmal versuchte Jenny, ihm die Fotos zu zeigen, die Roz gebracht hatte. Er erkannte sich selbst – diese Bilder stellten ihn so dar, wie er glaubte, jetzt immer noch auszusehen –, aber sie machten ihn traurig und ängstigten ihn. »Ich erinnere mich nicht«, sagte er. »Ich habe das nicht getan.« Trügt nicht der Schein … Und er wirkte einen Augenblick verloren und ängstlich, bis der Gedächtnisfaden wieder abriss.
Dann legte Jenny ein Band in den Kassettenrekorder, Beethovens Violinkonzert. Die Musik erfüllte den Raum, und Roz beobachtete, dass etwas mit ihm geschah. Nathans zielloses Umhergehen fand ein Ende. Seine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Musik. Als die Violine sich vom Orchester löste, sich
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