Nachtengel
Sie waren dem Pfeil gefolgt und hatten die tote Frau, das Callgirl Jemima, gefunden. Jeder würde wissen, dass sie, wenn sie erst einmal so weit waren, auch herausfinden würden, wer ›Jemima‹ wirklich war, allerdings vielleicht nicht so schnell, wie es ihnen tatsächlich gelungen war. Außer wenn … Lynne spürte das gleiche Kribbeln wie bei einer Überwachungsaktion, dieses Gefühl um zwei Uhr morgens, von unsichtbaren, bösartigen Augen verfolgt zu werden. Es sei denn, die Person, die so hilfreich den Weg gezeigt hatte, wusste, dass sie Gemma Wishart gesehen hatte und Schlüsse daraus ziehen würde.
Frauen mit zerstörten Gesichtern, die als Prostituierte arbeiteten, zeigten sich in dem Muster eines Bildes, das sie beide nicht sehen wollten. »Warum die Gesichter?«, fragte sie.
»Es könnte die Handschrift des Mörders sein, oder vielleicht will er ihre Identifizierung erschweren.« Er dachte nach. »War es ein Nachahmer oder derselbe Täter? Wir wissen nicht einmal, ob die ersten beiden Frauen überhaupt ermordet wurden.« Offene Fragen.
»Bist du dem Blenheim noch weiter nachgegangen?« Sie hatte ihn angerufen und ihn über das informiert, was sie von Celia Fry erfahren hatte. Wenn er es ihr nicht sagte, musste sie ihn fragen.
»Da sind wir dran«, sagte er. »Irgendwas Neues über die Beratungsstelle?«
Lynne zögerte ganz bewusst, bevor sie ihm ihre Zweifel an Nasim Rafiq anvertraute. Sie dachte an den kaltblütigen Rat, die Information an den Sicherheitsdienst weiterzugeben. »Ich glaube nicht, dass sie ihren Sohn gefährden würde«, sagte sie schließlich. »Sie fängt an, auf mich zu hören, glaube ich.«
»Du bist keine Sozialarbeiterin, Lynne.« Er hatte leicht die Stirn gerunzelt, während er ihr zuhörte.
»Ich benehme mich auch nicht wie eine Sozialarbeiterin.« Sie hörte selbst, wie gereizt sie klang, und sah, dass auch er es bemerkt hatte. »Aber sie kann mir helfen – und ich ihr. Es ist eine gegenseitige Hilfeleistung.«
Aus seinem Gesichtsausdruck konnte sie nicht entnehmen, was er dachte. Sein Arm lag auf der Rückenlehne der Couch, seine Finger ruhten leicht auf ihrer Schulter. »Wann gehst du wieder hin?«
»Morgen«, sagte sie.
Dann schwiegen sie, sahen sich an, und jeder sah im Gesicht des anderen, dass die Stimmung leichter, entspannter Heiterkeit vorbei war und sie beide das Bedürfnis hatten, allein zu sein. Sie sah auf die Uhr, und er reagierte sofort darauf. »Ich muss gehen«, sagte er. »Morgen fangen wir früh an.« Er sah auf sie hinunter und schien unentschlossener, als sie ihn je gesehen hatte.
»Es war schön heute Abend«, sagte er schließlich. »Ich sehe dich bald wieder, okay?«
»Ja.« Lynne wartete, bis seine Schritte am Fuß der ersten Treppe verklungen waren, dann machte sie die Tür zu, schloss zweimal ab und legte die Sicherheitskette vor. Danach überprüfte sie, ob alle Fenster verriegelt waren. Paranoikerin, beschimpfte sie sich selbst. Aber manchmal war übergroße Vorsicht ganz gut.
15
Sheffield, Samstagmorgen
Der Wetterbericht hatte einen wolkenlosen Tag versprochen, heiter, aber kalt und in höheren Lagen Schnee. Um neun waren jedoch die ersten Wolken aufgezogen, und die strahlende Morgensonne verschwand bald hinter einer düsteren, eisgrauen Wolkenwand.
Es fing nicht gut an mit Roz' Fahrt. Sie hatte am Abend zuvor den Wagen draußen auf der Straße geparkt, hatte nur schnell ihre Tasche genommen und ihn abgeschlossen stehen lassen. Und jetzt hatte sie eine Panne, ein Reifen war platt und ihr Reservereifen auch. Ein paar Wochen zuvor hatte sie den Reifen gewechselt und ihn flicken lassen wollen, es dann aber versäumt. Idiot! Sie betrachtete sich das Rad genau. Es sah aus, als hätte jemand einen Nagel hineingebohrt. Wahrscheinlich die Jungs drei Häuser weiter – eigentlich ganz nette, aber flegelhafte Burschen, die einen solchen kleinen Streich unheimlich witzig finden würden.
Sie sah auf ihre Uhr. Es würde viel zu lange dauern, jemanden zum Reparieren kommen zu lassen. Sie musste den Reservereifen mitnehmen, ihn reparieren lassen, zurückbringen und den Reifen wechseln … So hatte sie eine perfekte Ausrede, nicht fahren zu müssen, und brauchte nur anzurufen. Jenny würde enttäuscht sein, aber Verständnis haben. Sie sah das Gesicht ihrer Schwiegermutter vor sich, als sie Nathan während seiner Krankheit damals zum ersten Mal gesehen hatte. Sie und Nathans Vater waren in Urlaub gewesen, als er ins Krankenhaus kam. Roz hatte
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