Nachtengel
Bretter, die offenbar den Durchgang von der Straße zum Hof verdeckt hatten, wurden abgerissen. Lynne dachte an das Kratzen, das sie gehört hatte, bevor Pearse sie angriff. »Er ist hier durchgekommen«, sagte sie.
Es war kein Durchgang, sondern der Eingang ins Lagerhaus, Stufen führten in die Dunkelheit hinunter. Unten ging es im rechten Winkel um die Ecke, und ein kurzer Gang endete an einer Tür. Rechts davon war noch eine Tür, die zu dem Raum unter der Treppe führte. Farnham richtete das Licht seiner Taschenlampe darauf. Der winzige, geflieste Raum war vor kurzem benutzt worden, jemand hatte auf der Matratze geschlafen, eine Jacke lag darauf. In einem Winkel des Raums gab es einen Wasserhahn, einen Abfluss und einen Eimer. Aber es war niemand da. Farnham stieß die Tür am Ende des kurzen Gangs auf, und der Keller lag vor ihnen.
Wie eine Kirche, dachte Lynne, und sah die aufgereihten Kerzen, die bei ihrem Eintritt flackerten. Eine Kerzenreihe führte zwischen den Backsteinsäulen auf einen Steintisch zu, auf dem die Kerzen eines dreiarmigen Leuchters weit heruntergebrannt waren. Zwei Männer von Farnhams Gruppe machten ihre Taschenlampen an, das Kerzenlicht schien blasser, die Schatten verschwanden, und der Raum war nur noch ein staubiger Backsteinkeller. Lynne wandte sich um und erwartete, Anna Krlezas zusammengekauerten Körper zu sehen, ihr blutiges Gesicht mit den zertrümmerten Knochen, das nicht mehr zu erkennen sein würde. Sie hatte das Gewicht des schweren Hammers und die Kraft seines Arms gespürt. In ihrer Schulter pochte ein stumpfer Schmerz, aber sie konnte sie wieder bewegen. Vielleicht war nichts gebrochen.
Man hörte von der anderen Seite des Raums Rufe. Lynne entdeckte eine schwere Eisentür. Einer von Farnhams Leuten versuchte, sie zu öffnen. Er zog am Griff und sah Farnham an. »Abgeschlossen.« Sie erkannte den jungen Polizisten, Des Stanwell, und kurz fiel ihr Gemma Wishart ein. 'ne piekfeine Studentin … Plötzlich sah sie alles mit kalter Klarheit und so distanziert, als beobachte sie es aus der Ferne. Farnhams Stimme drängte: »Brecht die Tür auf!« Jemand riss eine Stange aus einem der Fenstergitter und bog sie zu einem behelfsmäßigen Stemmeisen zurecht.
Die Tür gab zuerst nicht nach, ging dann aber doch auf. Instinktiv wichen alle vor dem Schwall übel riechender Luft, dem Gestank abgestandener Fäulnis und frischeren Gerüchen nach Urin und Erbrochenem zurück. Einen Augenblick standen sie wie erstarrt um die Gestalt herum, die nach vorn herausgefallen war, als sich die Tür öffnete. Sie musste sich gegen die Tür gepresst haben, als ihr die Luft ausging. Anna Krleza. Sie war sehr klein. Lynne bemerkte die blutigen Hände und abgebrochenen Nägel und wusste, dies war der Ort, wo Katja gestorben war. Hier hatte auch Katja um ihr Leben gekämpft, als sie keine Luft mehr bekam und ihre Rufe und Schreie die luftdichte Tür nicht durchdringen konnten.
Aber Anna Krleza war noch am Leben.
Matthew Pearse saß am Tisch und hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt. Er hatte nichts gesagt, seit Farnham ihn über seine Rechte belehrt hatte, aber jetzt sah er zu Lynne auf und sagte: »Anna?«
Lynne sah zu Farnham hinüber. Er nickte. »Anna ist am Leben«, sagte Lynne. »Mehr weiß ich nicht.«
»Zu spät«, sagte Pearse, »ich kam zu spät. Ich hätte … gestern. Aber ich war schwach. Sie hatte sich so bemüht.«
»Was meinen Sie damit, Mr. Pearse?«, sagte Lynne. »Dass Sie ›zu spät‹ kamen.«
»Sie zu retten«, sagte er. »Sie zu retten.« Seine Hände waren in ständiger nervöser Bewegung. »Es ist schwer für sie«, sagte er. »Sie wissen nichts, sie verstehen nichts. Richten Sie nicht, Inspector, auf dass Sie nicht gerichtet werden. Wenn Menschen sich ihrer Sünde nicht voll bewusst sind, wie können sie da verdammt werden?« Er seufzte. »Aber manchmal gibt es neben diesem Bewusstsein trotzdem die Absicht, fortzufahren. Wenn man bereut hat und doch bewusst weiterhin sündigt, kann es dann echte Reue gewesen sein? Oder wird man für ewig in den Abgrund der Hölle verdammt? Anna hat sich so bemüht, aber sie war wieder auf dem Weg zu ihren alten Fehlern. Ich musste sie retten.«
Farnham beugte sich vor. »Und die drei anderen?«, fragte er. Pearse sah ihn an. »Die Frau, die wir bei Ravenscar gefunden haben?« Pearse nickte zustimmend. »Wer war sie?«, fragte Farnham.
»Ich kannte ihren Namen nicht.« Pearse rieb rastlos eine Hand an der anderen, als hätte sie
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