Nachtengel
gebraucht hatte. Sie kam an die Überführung, die hohe Eisenbahnbrücke, die sich über die Straße spannte. Sie fuhr durch den kleinen Flecken freier Landschaft, der noch nicht von den sich immer weiter ausdehnenden Städten geschluckt worden war.
Glossop war eine schöne Stadt aus dunklem Stein, im Norden und Osten von hohen Bergen und dem Moor begrenzt. Aber für sie war Glossop heute Abend nur eine einzige lange Hauptstraße. Jedes Mal auf der monotonen Fahrt, vorbei an Reparaturwerkstätten, Supermärkten und einer alten Kirche, die in ein Lagerhaus umgewandelt worden war, erschien sie ihr länger, als sie sie im Gedächtnis hatte. Sie kam zum Marktplatz, wo sie anhalten und ihren versprochenen Anruf erledigen konnte. Es war spät, und Luke würde sich sorgen. Eigentlich hätte sie schon früher anrufen sollen. Sie sah eine Parklücke und fuhr ziemlich abrupt hinein, was ein gereiztes Hupen von dem Fahrer hinter ihr auslöste, der sie bereits bedrängte, seit sie auf die Straße nach Glossop abgebogen war.
Sie wählte und überlegte dabei, wie lange der Rest der Fahrt dauern würde. In einer halben Stunde dürfte sie dort sein. Als es klingelte, sah sie die Wolken, die regenschwer und niedrig über den Bergen hingen. Fünfundvierzig Minuten, um sicherzugehen. Wenn die Wolken sich öffneten, würde sie langsamer fahren müssen. Das Telefon klingelte, dann klickte es und Lukes Stimme sagte: »Hinterlassen Sie eine Nachricht, ich melde mich.« Sie war enttäuscht. »Ich bin's«, sagte sie. Die perfekte Nachricht. Ich bin's, bist du's? Triff mich hier in fünf Minuten. »Hier ist Roz. Es ist Viertel nach sieben, und ich fahre jetzt gerade aus Glossop raus. Über den Bergen hängen Wolken. Sagen wir, eine Dreiviertelstunde.« Sie hoffte immer noch, dass er abnehmen würde. Aber er reagierte oft nicht auf das Klingeln und überließ die Anrufe dem Anrufbeantworter. Er meldete sich nicht. Du kannst mich mal, Hagan.
Sie war müde und fragte sich, ob sie in Glossop wohl schnell einen Kaffee bekommen konnte. Dann hatte sie aber keine Lust, auszusteigen und sich auf die Suche nach einem Café zu machen. Luke würde ihr eine seiner Koffeininfusionen verpassen, sobald sie zurückkam. Es dauerte nicht mehr lange. Sie erinnerte sich, dass er heute der Polizei von den Fotos berichten wollte. Sie dachte daran, wie er halb im Spaß gesagt hatte: »Wenn du zurückkommst, wirst du mich vielleicht in Polizeigewahrsam finden«, und eine leichte Unruhe ergriff sie.
Sie fuhr weiter, die Lichter von Glossop wurden spärlicher, und dann tauchten einzeln stehende Häuser auf. Sie fuhr in der Dunkelheit die ansteigende Straße hinauf, rechts von ihr lag eine freie Fläche. Ein Stück weiter vorn stand das letzte Haus vor einer Rechtskurve. Die Fenster des Hauses waren dunkel. Die Felsen ragten mittlerweile höher auf, und das dünne Gras der Torfmoore raschelte im Wind. Die ersten Wolkenfetzen trieben vor ihr her, sie fuhr langsamer und bremste noch einmal, als der Nebel dichter wurde und nur den Blick auf ein paar Meter Straße im Licht ihrer Scheinwerfer freigab.
Ihr Telefon klingelte, und sie tastete auf dem Sitz danach. Bestimmt war es Luke, der auf ihre Nachricht antwortete. Sie wagte nicht, den Blick von der Straße zu wenden, nahm aber das Telefon und drückte die Taste. »Hallo? Luke?« Es summte und krachte an ihrem Ohr, und sie glaubte, jemanden lachen zu hören, war sich aber nicht sicher, und dann brach die Verbindung ab.
21
Snake Pass
Als sie höher hinaufkam, wurde der Nebel noch dichter. Roz fuhr jetzt sehr langsam, spähte durch die Windschutzscheibe und starrte angestrengt auf die Straße. Einmal tauchte bedrohlich und gefährlich nah ein Auto aus dem Nebel auf, schlingerte und verschwand. Sie hatte das Gefühl völliger Isolation wie auf einem leeren Weg, der vor ihr aus der hell erleuchteten Nebelwand auftauchte und hinter ihr wieder im Dunkel der Nacht verschwand. Die Straße stieg immer noch an, sie war noch nicht auf der Kuppe. Vor ihr war irgendetwas auf der Straße. Sie kniff die Augen zusammen, um es zu erkennen, aber was sich da bewegte, war nur ein Schaf, das sich beeilte, aus dem Scheinwerferlicht zu verschwinden.
Dann ließ sie die Nebelbank hinter sich. Die Straße machte eine Kurve und wand sich um Felskanten dem Gipfel entgegen. Sie gab Gas und versuchte, so weit wie möglich zu kommen, bevor der Nebel sich wieder herabsenkte. Als sie den Gipfel erreichte, blies der kräftige Wind die letzten
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