Nachtengel
setzte sich an Nasims Schreibtisch und dachte nach. Zweimal schon hatte sie hier etwas übersehen. Das Zimmer auf dem Dachboden hatte sie nicht gefunden, als sie sich beim ersten Mal hier umgesehen hatte, obwohl es unwahrscheinlich schien, dass Anna Krleza zu der Zeit dort gewesen war. Denn Nasim wäre während ihres Besuchs bestimmt nicht so gelassen gewesen. Und sie hatte nicht erkannt, wie wichtig die Notizen in dem Buch waren, das sie jetzt in der Hand hielt. Was hatte sie sonst noch übersehen?
Sie dachte daran, wie sie mit Matthew Pearse gesprochen hatte, an seine verhaltene Stimme, aber auch den ruhigen und ernsten Blick seiner Augen. Ein Priester, hatte Michael Balit gesagt. Ein Priester, der einen Fleck auf seiner weißen Weste hatte. Das erklärte vielleicht, warum er seine Zeit der Gemeindearbeit widmete. Die Bedürftigen waren für ihn an die Stelle seiner Gemeindemitglieder getreten. Das erklärte vielleicht auch, dass seine Überzeugung ihn dazu trieb, sogar gegen das Gesetz zu verstoßen, wenn er Menschen in Not sah, eine Kombination aus Glauben und Außenseitertum.
Sie stand auf und ging durch das Hinterzimmer, denn sie erinnerte sich, wie Nasim sie beobachtet hatte, als sie von oben kam. Sie ging zu dem kleinen Winkel mit dem Waschbecken und dem Kamineinsatz mit zwei Ringen. Immer noch hatte sie das Gefühl, etwas übersehen zu haben.
Das Fenster des schmalen Nebenraums führte auf den Hof hinaus. Der aufsteigende Mond stand groß am Himmel, schien in den Hof und warf ein schwaches Licht auf den moosbedeckten Boden. Sie betrachtete die Backsteinwand des Lagerhauses, die außer den dunklen vergitterten Öffnungen, die in Bodenhöhe entlangliefen, kahl war. Sie wusste nicht, warum sie immer noch hier war. Sie hatte die unbezahlten Überstunden nicht gezählt, die sie bereits geleistet hatte. Sie müsste nach Hause gehen. Etwas hast du übersehen, etwas hast du übersehen …
Sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Katja. Katja kam in die Beratungsstelle. Eine Prostituierte. »Ich dachte damals, dass sie als Prostituierte gearbeitet hatte …« Matthew Pearses Stimme. Begleitagenturen. Gemma Wishart. Angel Escorts. Mr. Rafael. Jetzt ging es um Engel und Erzengel …
Plötzlich stellte sich ihr der Zusammenhang dar, und sie war am Ziel, bevor es ihr richtig zu Bewusstsein kam. Religion. Priester. Die heilige Kommunion, der Leib und das Blut … Sie erinnerte sich an die Obduktionsberichte, den von Katja und den zu dem Mord bei Ravenscar: geringe Alkoholmenge im Blut … kurz vorher etwas gegessen … Brot … Brot. Alkohol. Der Leib und das Blut. Brot und Wein.
Der Raum hatte sich mit einem Zischen, als werde er luftdicht versiegelt, immer enger um Anna geschlossen. Sie wurde nach hinten gedrückt, und die Tür presste sich so eng an sie wie eine zweite Haut. Sie drehte den Kopf zur Seite und versuchte, den Mund zum Atmen freizubekommen. Ihre Finger wollten sich in den immer enger werdenden Spalt drängen, aber dann hörte sie das Schloss einrasten. Sie versuchte, irgendetwas zu packen, an dem sie ziehen, Halt finden konnte, um die Tür aufzudrücken, aber die glatten Wände des Innenraums pressten ihre Arme fest an ihren Leib. Sie konnte die Hände nicht ans Gesicht heben, um ihren Mund freizubekommen und Luft zu holen. Sie versuchte, sich zu wehren, aber der Raum hielt sie fest umschlossen. Sie bog den Kopf nach hinten und sog keuchend die Luft aus dem kleinen Loch über ihrem Kopf ein. Jetzt sah sie ein rotes Licht über sich aufglimmen. Es war eine Kerze, so nah, dass sie die Wärme der Flamme fühlen konnte, aber so unerreichbar, als wäre sie fünfzig Meter weit weg. Unter der Kerze war ein Text, den sie beim Schein des roten Lichts lesen konnte. Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, Herr, höre auf meine Stimme. Sie war in einem engen Raum mit einer luftdichten Tür. Matthew hatte sie in diesem Gehäuse eingesperrt, und sie konnte sich weder bewegen noch atmen. Das Verlangen, sich frei zu bewegen, war so stark, dass sie sich verzweifelt wehrte und versuchte, einen Weg durch die undurchdringliche Tür und die Wände zu finden. In der gedämpften Stille erschien alles wie ein Traum, in dem nichts von dem, was hier geschah, in die Welt nach draußen dringen würde, und sie nur hilflos schreien konnte. Lass mich raus! Lass mich raus! Lass mich raus!
Die Luft vor ihrem Gesicht war heiß und dumpf, und obwohl sie atmen konnte, verlangte ihre Lunge nach mehr Sauerstoff. Das rote Licht fing an
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