Nachtengel
einen Krampf oder wäre steif.
»Die Frau, die sich Hilfe suchend an Sie wandte?«, fuhr Farnham fort. »Die Sie ins Krankenhaus gebracht haben?«
»Oksana«, sagte er. »So heißt sie. Sie hat es mir gesagt.«
»Und war sie auch wieder ihren alten Lastern verfallen?«, fragte Farnham. »Mussten Sie sie auch retten?«
»Sie wollte eine Abtreibung«, sagte Pearse. »Sie sagte es mir, als wir ins Krankenhaus kamen. Dann weinte sie. Sie wusste, dass es nicht richtig war. Vorher hatte sie nicht geweint.«
Lynnes Atem stockte. Sie dachte an Katja/Oksana, die jung und voller Angst war und vor Erleichterung weinte, dass sie endlich einen sicheren Ort gefunden hatte. Wie hatte Pearse sie dazu gebracht, wieder wegzugehen?
Er schien die Frage von ihrem Gesicht abzulesen. »Ich sagte ihr, dass die Männer nach ihr suchten und dass sie nicht in Sicherheit sei. Sie hatte große Angst vor ihnen, besonders vor einem. Ich sagte ihr, dass ich sie an einen sicheren Ort bringen könnte.« Er hatte sie am Eingang zum Parkplatz getroffen. »Sie wusste, dass sie mir vertrauen konnte«, fuhr er fort.
Lynne hätte am liebsten die Augen geschlossen. Sie merkte, dass Farnham sich neben ihr auf seinem Stuhl bewegte. »Und die andere?«, fragte er. »Gemma Wishart?« Lynne ahnte seine unausgesprochene Antwort. Du hast sie vergewaltigt und gequält. Willst du uns jetzt erzählen, dass du sie gerettet hast?
»Ich kannte ihren Namen nicht«, sagte Pearse. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Gemma.« Seine Stimme war leise. »Das ist ein hübscher Name. Sie hat mir den Weg gezeigt. Ich wollte nicht, dass sie starb, aber ich habe sie verlassen, und als ich zurückkam, war sie tot.« Bei der Erinnerung daran verzog er leicht das Gesicht. »Sie muss sich sehr gewehrt haben, um zu entkommen … Sie war … Ihr Gesicht war … Aber dann habe ich begriffen. Da war mir klar, was ich tun musste. Es war eine stürmische Nacht«, sagte er, »als ich sie der See übergab. Es war Springflut.« Er lächelte sie an. »Vor fast einem Jahr. Ich bin froh, dass ich sie gefunden habe«, sagte er.
Im Vernehmungszimmer herrschte Stille. Vor fast einem Jahr. Pearse hatte vor fast einem Jahr angefangen zu töten. Das Ticken der elektronischen Wanduhr erschien Lynne plötzlich sehr laut. In ihrem Kopf wiederholten sich die Worte: Wie viele? Wie viele? Wie viele? Sie sah Farnham an, dessen Gesicht bei dieser Erkenntnis erstarrt war. Er beugte sich zu Pearse hinüber und zwang den Mann, ihn anzusehen. »Und die Frau im Hotel? Im Blenheim?« Pearse' verständnisloser Blick war überzeugender als jedes Leugnen.
Dann klopfte es an der Tür, es war Anderson. »Etwas ist reingekommen, Sir«, sagte er. Farnham unterbrach das Verhör und gab Lynne ein Zeichen, sie solle mitkommen. Sobald die Tür geschlossen war, begann Anderson zu reden. Lynne brauchte einen Moment, bis sie begriff, wovon er sprach. »Die Telefonüberwachung«, sagte er. »Sie haben uns gerade angerufen. Das Handy, das Angel Escorts Handy. Jemand hat es heute Nachmittag benutzt. Ich kenne den Standort. Es ist drüben in Sheffield. Ein Ort, der sich Lodge Moor nennt.«
Farnham sah Lynne an. »Das ist da, wo Luke Hagan wohnt.«
Glossop, Montagabend
Es fing schon an zu dämmern, und als die Besprechung zu Ende war und Roz Manchester verließ, war es dunkel. Sie musste in der Hauptverkehrszeit durch die Stadtmitte und war gereizt und ungeduldig wegen der Autofahrer, die anzunehmen schienen, alle Fahrer seien telepathisch begabt oder hätten das zweite Gesicht. Mussten sie sich denn nie durch das Verkehrsgewühl von Innenstädten kämpfen, die sie nicht kannten? Ein Geländewagen nutzte eine leichte Verzögerung dazu, vor ihr einzuscheren, und zwang sie auf die falsche Fahrbahn. Sie fuhr langsamer und war den anderen Fahrern im Weg, als sie ohne Rücksicht auf das wütende Hupen hinter sich vorsichtig nach links zog und die anderen Fahrzeuge zwang, ihr Platz zu machen. Sie dachte an Lukes Motorrad und wie er sich immer zwischen den Reihen schneller Wagen hindurchschlängeln konnte, die aufgebrachten Autofahrer hinter sich ließ und in die Ferne entschwand.
Es war halb sieben, als Roz die Außenbezirke von Manchester hinter sich hatte und es auf den Straßen ruhiger wurde. Der Berufsverkehr war vorbei, und als sie nach Glossop abbog, blieb der dichte Verkehr zurück. Sie war später dran, als sie zu Luke gesagt hatte. Vielleicht hätte sie ihn schon früher anrufen und ihm sagen sollen, dass sie länger
Weitere Kostenlose Bücher