Nachtengel
sind drin«, sagte er.
Lynne hörte die Stimme am anderen Ende reden, undeutlich und leicht verzerrt. Die Wohnung war leer. Keine Spur von Hagan und kein Hinweis, wohin er gegangen sein könnte. »Sein Computer läuft noch«, sagte die Stimme.
»Was ist drauf? Womit war er beschäftigt?«, fragte Farnham.
»Nur ein … ein Bild, eine Frau …« Lynne wünschte, sie könnte dort sein, um die Dateien zu überprüfen, die Hagan geöffnet hatte, und um dies alles selbst zu sehen. Sie betrachtete den Computer auf Farnhams Schreibtisch und sah nach, welche Programme darauf liefen. Farnham beobachtete sie, während er zuhörte, und nickte, als ihm klar wurde, was sie vorhatte.
»Frag ihn, ob Hagan NetMeeting auf seinem Rechner installiert hat«, sagte sie. Ein Programm, mit dem mehrere Computer gemeinsam Dateien benutzen konnten, und das häufig in Programmpaketen enthalten war. Nach einem kurzen Austausch von Anweisungen erschien vor ihnen auf dem Monitor das gleiche Bild wie auf Luke Hagans Rechner wie ein Fenster in die dunkle Ferne, oder, wie Lynne dachte, ein Fenster in eine kranke Seele. Es war das Bild von Gemma Wishart, die auf dem Bett ausgestreckt lag, die Vorlage für die Parodie, bei der ihre Leiche in die Badewanne gelegt wurde.
In Erwartung des Unvermeidlichen fuhr sie mit dem Cursor über die Schamhaare und löste die Botschaft aus: Komm näher und lerne mich besser kennen. Lynne klickte auf den Link, und das Bild baute sich auf. Aber statt auf die erwartete pornografische Bilderreihe starrte sie plötzlich auf die Leiche in der Badewanne mit den über den Kopf hochgezogenen und zusammengebundenen Händen, den gespreizten Knien und den blutigen Überresten von Gemma Wisharts Gesicht. Lynne spürte die makabre Nähe des Wahnsinns und erinnerte sich an die Aussage des Hotelgasts: Und ich hörte Lachen. Jemand lachte immerzu.
Das Telefon meldete sich rauschend wieder. »Wartet. Da ist ein Anruf … nein, doch nicht. Das ist komisch. Wirklich komisch. Es hat nicht geklingelt. Kein Ton, aber der Anrufbeantworter läuft. Das Band bewegt sich.«
Lynne sah Farnham an. »Fernabfrage«, sagte er. »Mit meinem Apparat kann man das auch machen. Man gibt den Code ein und ruft seine Nachrichten ab.« Die Anrufe bei Luke Hagans Nummer! Der erste musste von Gemma gewesen sein, die von der Telefonzelle in Glossop anrief und eine Nachricht hinterließ, weil Hagan nicht da war. Er war nicht da, weil er losgefahren war, um sie auf der dunklen Straße in den Bergen zu treffen. Und der zweite Anruf war der von Hagan, der die Anrufe abhören und die belastende Aufnahme löschen wollte, die vielleicht auf dem Gerät war.
Plötzlich empfand sie ein schreckliches Gefühl der Vertrautheit. Gemma Wishart hatte Zweifel an nicht näher angegebenen Einzelheiten auf dem Katja-Band geäußert und war auf dem Rückweg von Manchester verschwunden. Und nun hatte Roz Bishop etwas herausgefunden und eine ungewollt rätselhafte Nachricht für Lynne hinterlassen. Jetzt war sie auf dem Rückweg von Manchester, und sie war spät dran. Sie sah Farnham an. »Roz Bishop«, sagte sie.
»Schon gut«, sagte er. »Sie haben einen Wagen hinübergeschickt, um sie zu treffen – sobald wir sie anriefen.«
»Weißt du, auf welcher Route sie zurückfährt?«
Farnham sprach schnell in den Hörer. »Sie haben nachgefragt«, sagte er. »Sie fährt die Woodhead-Strecke.«
Man konnte also nur warten. Sie wollte dort sein, sie wollte etwas tun. Sie sah die gleiche Frustration in Farnhams Blick. Er wollte auflegen, zögerte aber, sich, wenn auch nur kurz, von dem abzukoppeln, was sich so plötzlich außerhalb seiner Einflusssphäre ereignete, als die Stimme wieder zu sprechen anfing. Im Hintergrund hörte man Reden, zuschlagende Türen, Rufe – alles war nur aus der Ferne und verzerrt zu hören. »Es ist …«, die Stimme war kaum noch zu verstehen. »Im Schuppen, er ist …«, man konnte wieder nichts verstehen, und Farnham war zornig und aufgebracht, als er mit knappen Worten Aufklärung verlangte. »Tut mir Leid, Sir.« Die Stimme war jetzt ruhiger. »Wir haben in dem Schuppen, in dem Hagan sein Motorrad abstellt, jemanden gefunden. Das Motorrad ist fort, aber …« Lynne lauschte, als er ihnen sagte, was sie in dem Durcheinander von Werkzeugen, Gerümpel und Zubehör entdeckt hatten: Dunkle Schmierspuren auf dem Boden, die vermuten ließen, dass etwas in die Ecke geschoben oder gerollt worden war. Ein Mann lag auf dem Boden, sein Kopf war
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