Nachtengel
oberste Schublade des Aktenschranks. Sie wollte nicht zugeben, dass er Recht hatte.
»Meinst du, Gemma hat das getan? Kam gestern zurück und hat alles in ihrem Rechner gelöscht?«
Er griff an ihr vorbei zum Aktenschrank und knallte die Schublade zu. »Wie soll ich das wissen, verdammt noch mal?«
Seine Wut ließ sie erstarren. Sie wusste, dass Luke launenhaft sein konnte, aber sie hatte nie erlebt, dass er plötzlich so wütend wurde. Sie trat vom Aktenschrank weg, weil sie ein Stück von ihm entfernt sein wollte. Sie versuchte, noch eine Frage zu stellen, und strengte sich an, ihre Stimme normal klingen zu lassen. »Warum diese Zerstörungsaktion auf der Festplatte hier? Warum hat … wer immer … die ganze Festplatte gelöscht und auf dem anderen Computer nur die Dateien?«
Er sah sie nicht an und ließ seine Hand auf dem Aktenschrank ruhen. »Ich weiß es nicht, Roz.« Seine Stimme klang angespannt und beherrscht. »Versuch doch selbst, es herauszukriegen.«
Sie sah seine starre Haltung. Plötzlich war es, als werde sie zwei Jahre zurückversetzt und sehe Nathans Verwirrung sich in Wut verwandeln. Dann konnte sie immer nur eines tun: Ihm schnell aus dem Weg gehen. Bis zu dem Abend, an dem sie es nicht geschafft hatte. Sie war von seinem unsicheren Stolpern aufgewacht, weil er im Haus umherging, und war aufgestanden, wie sie es zuvor oft getan hatte. Und er hatte am oberen Ende der Treppe gestanden, das Gesicht vor Wut und blinder Angst verzerrt. Sie sah noch dieses Gesicht und seinen erhobenen Arm vor sich. Dann schlug er mit der Faust gegen ihre Schläfe, ihre Hand griff in dem Moment vor ihrem Sturz, in dem alles stillzustehen schien, nach dem Geländer, aber sie konnte sich nicht retten, und Schmerz und Angst ergriffen sie.
In diesem Zustand konnte sie nicht bei Luke bleiben. »Ich bin in meinem Büro«, sagte sie schließlich.
Er sah sie nicht an. »Okay.«
Sie ging den leeren Korridor entlang an der Treppe vorbei, und ihre Schritte hallten auf dem Linoleumboden. Ein rotes Sicherheitslicht glühte an der Decke, und in der Halle am Ende des Korridors schimmerte ein schwacher Lichtschein. Roz ging auf ihr Büro zu und versuchte, die Situation zu überdenken. Ihre Überlegungen gingen in zwei Richtungen: Der Hauptgedanke war die Sorge um Gemma. Das Gefühl beklemmender Ungewissheit überzeugte sie, dass etwas nicht stimmte. Luke sagte, er hätte mit der Polizei gesprochen, und dort sei man nicht besorgt gewesen, aber das war gewesen, bevor er entdeckt hatte, dass die Dateien gelöscht waren. Oder würde man bei der Polizei der Meinung sein, das zeige gerade, dass Gemma vorgehabt hatte, wegzugehen, und dass sie alle Dateien gelöscht hatte, weil … weil was? Weil sie etwas zu verbergen hatte?
Das war Roz' zweite sorgenvolle Überlegung: Wenn Gemma absichtlich gegangen war, konnte das ernste Konsequenzen für die Gruppe haben. Roz schloss die Tür ihres Büros und lehnte sich von innen dagegen. Stille umgab sie. Sie brauchte Zeit zum Denken, und ihr wurde klar, dass sie Joanna anrufen musste. Joanna musste es erfahren. Sie wählte ihre Nummer, aber der Anrufbeantworter war dran. Sie legte auf. Sie sollte sich überlegen, was sie sagen würde. Sie schob einen Papierstoß zur Seite und nahm ihren Notizblock und einen Kuli. Es war ein Stoß von Arbeiten, die sie am Montag zu erledigen hatte. Die verschiedenen Aufgaben, die sie erwarteten, lenkten sie ab, und sie blätterte in dem Stoß, während sie überlegte, was sie Joanna sagen wollte.
Das erinnerte sie an den Bericht für DI Jordan. Gemma musste ihn fertig machen und abschicken. Aber Gemma würde nicht hier sein. Plötzlich wusste sie das ganz sicher. Was immer geschehen war, Gemma würde nicht sobald zurückkommen, vielleicht überhaupt nie. Roz würde den Bericht durchsehen und die ziemlich kurz angebundene DI Jordan anrufen müssen, um zu erklären, warum er noch einen Tag später kommen würde. Sie erinnerte sich an Joannas überschwänglich gute Stimmung am Freitag. Ihr graute davor, es ihr zu sagen.
Eine Diskette hatte in dem Papierstoß gesteckt, rutschte heraus und fiel zu Boden. Mit gerunzelter Stirn hob sie sie auf. Sie vermied es immer sorgfältig, Disketten herumliegen zu lassen, beschriftete sie gewissenhaft und verstaute sie an der richtigen Stelle, damit man sie finden konnte, wenn sie gebraucht wurden. Am Freitag musste sie wohl zerstreut gewesen sein. Sie sah nach, was für eine Diskette es war. Kein Etikett. Das war eigenartig.
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