Nachtengel
Sie speicherte nie, wirklich nie etwas auf einer Diskette, ohne ein Etikett mit Beschriftung aufzukleben. Sie musste jemand anderem gehören, aber wer würde sie in ihrem Büro liegen lassen?
Dann erinnerte sie sich, dass Gemma am Mittwoch in ihrem Büro gewesen war, nervös in ihrer Tasche gewühlt und sie dann auf ihrem Schreibtisch abgestellt hatte. Die Diskette musste aus der Tasche gefallen sein, ohne dass Gemma es merkte. Sie nahm den Hörer ab, um Gemmas Durchwahl zu wählen und Luke zu sagen, was sie gefunden hatte, aber dann legte sie auf. Sie sollte erst mal nachsehen, was sie gefunden hatte. Gemma musste vorgehabt haben, diese Diskette mitzunehmen. Sie legte sie ein, ließ sie durch das Virenschutzprogramm laufen und öffnete die Datei.
Es waren drei Dateien, JPG-Dateien, also Bilder. Die Namen halfen nicht, AE1, AE2, AE3. Roz war enttäuscht. Sie wollte keine Bilder, sondern sie wollte Gemmas Dateien, die sich auf ihre Arbeit bezogen. Sie öffnete eine Datei mit einem Doppelklick und sah, wie sich das Bild auf dem Bildschirm aufbaute.
Zuerst wollte ihr Verstand das Bild nicht aufnehmen. Dann war sie … schockiert? Verlegen? Belustigt? Kein Wunder, dass Gemma diese Dateien in ihrer Tasche verbarg und sie nicht in der Abteilung herumliegen ließ. Es war ein Bild von einer Frau – Gemma – die nackt auf einer gemusterten Steppdecke saß. Sie hatte die Knie hochgezogen, die Arme darauf gelegt und sah direkt in die Kamera. Ihre Augen leuchteten, und sie schien ein Lachen zu unterdrücken. Die Unterschenkel hatte sie leicht gespreizt, so dass sie der Kamera die uneingeschränkte, freie Sicht bot.
Roz öffnete die nächste Datei, obwohl sie nicht sicher war, ob sie das tun sollte oder wollte. Diesmal stand Gemma aufrecht, die Handgelenke waren über ihr mit einem schmerzhaft straff gespannten Strick zusammengebunden, sodass sie auf den Zehenspitzen stehen musste. Ihre Augen sahen herausfordernd und lockend direkt den Betrachter an. Auf dem dritten Bild lag Gemma auf einem Bett, ihre Hände waren wieder gefesselt und über den Kopf hochgezogen. Die Knie waren angewinkelt und die Beine gespreizt. Sie trug ein Mieder mit Spitzen, das so knapp saß, dass es ins Fleisch schnitt. Der Hintergrund war dunkel und schummerig. Roz saß still da und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie verstand nicht, warum die Bilder auf der Diskette waren. Warum Gemma sie in ihrer Tasche mit sich herumtrug. Wem wollte sie sie zeigen?
Hände legten sich auf ihre Schultern, und sie schrak zusammen. Sie fuhr herum, und Luke stand hinter ihr. Ihr Herz hämmerte bis in ihre Kehle, und einen Moment glaubte sie, ihr werde übel. »Luke! Verdammt! Du hast mich zu Tode erschreckt!« Sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
»Was hast du da, Roz?« Er klang ruhig und gelassen und entschuldigte sich nicht für den Schreck, den er ihr eingejagt hatte.
»Es ist …« Ihre Stimme klang unnatürlich, und bevor ihr etwas zu sagen einfiel, war seine Hand schon auf der Maus, und er klickte die anderen Bilder an. Keiner sagte etwas. Dann schloss er die Dateien und nahm die Diskette aus dem Laufwerk.
»Sie gehören, glaub ich, Gemma«, sagte er.
»Luke …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Ist schon in Ordnung.« Er bemühte sich, in seiner Stimme keine Emotion hören zu lassen. »Die haben wir vor zwei Monaten aufgenommen. Es waren einfach Fotos.«
Das stimmte. Es waren nur Fotos. Aber Roz war wütend auf Luke. Sie wünschte, sie hätte sie nicht gesehen, oder dass wenigstens nicht er sie aufgenommen hätte. Gemma hatte sie auf einer Diskette gespeichert und wollte sie irgendwohin mitnehmen. Warum? Sie sah Luke an, der die Diskette zwischen Daumen und Zeigefinger hielt und mit schmalen Augen grüblerisch vor sich hinsah.
»Es geht mich nichts an«, sagte sie. Sie hörte selbst, dass ihre Stimme kalt klang. »Ich dachte …« Was denn? Was hatte sie gedacht? Dass die Dateien eine Erklärung für Gemmas Verschwinden enthalten würden?
Er fing ihren Blick auf, war aber unkonzentriert, als denke er über etwas anderes nach. »Kein Problem.« Er klang zerstreut, seine plötzliche Wut war so schnell wieder verflogen, wie sie gekommen war. Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Na ja, du weißt jetzt also etwas, das du vorher nicht wusstest.«
Jetzt war sie jedenfalls sicher, dass sie Luke nicht so gut kannte, wie sie geglaubt hatte. Es kam ihr vor, als kenne sie ihn überhaupt nicht.
Snake Pass, Sonntagmorgen
Der
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