Nachtengel
sicher. Vielleicht hätte ich dich nicht anrufen sollen.«
»Ach komm, Luke. Meinst du wirklich, ich kann jetzt wieder einschlafen? Was ist denn los? Ist Gemma krank? Ist sie deshalb gestern nicht gekommen?«
»Gemma ist nicht zurück«, sagte er nach einer Pause.
»Luke …« Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. »Hat sie sich gemeldet? Hast du irgendetwas gehört?«
»Nichts. Aber …« Wieder die Unsicherheit, die gar nicht zu Luke passte.
»Meinst du nicht, wir sollten jemanden anrufen – das Krankenhaus? Vielleicht hatte sie einen Unfall.« Oder regte sie sich jetzt übermäßig auf?
»Das hab ich schon gestern gemacht. Ich hab dir ja gesagt, der Mist mit dem Wagen, das machte doch keinen Sinn. Es war nichts. Aber es würde sowieso nichts sein.«
»Warum? Was haben sie gesagt?« Es musste doch etwas los sein, sonst hätte er nicht angerufen. »Ich komm vorbei, ja? Zu Gemmas Wohnung?«
»Ich weiß nicht …« Wieder diese Unsicherheit. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob Luke sie einmal irgendwann in dem Jahr, seit sie ihn kannte, um Hilfe gebeten hatte.
»Ich komme hin«, sagte sie.
Einen Moment schwieg er. »Okay. Mal sehen, was du davon hältst.« Er legte auf.
Roz sah aus dem Fenster und versuchte abzuschätzen, wie das Wetter werden würde. Sie hatte keine Stores, ihr Schlafzimmerfenster führte auf das verlassene Haus hinaus, und von dort, wo sie lag, konnte sie das Erkerfenster sehen. Sie ließ sich aus dem Bett auf den Boden rollen. Es war eine Technik, die sie sich als Teenager angewöhnt hatte, als das Aufstehen eine unmöglich schwierige Aktion war. Ihre Müdigkeit war verflogen, aber sie wusste, dass sie sich später wieder melden würde. Ich werde alt … Die Dusche weckte sie vollends auf. Sie zog Jeans und einen warmen Pullover an, legte ein Croissant auf den Toaster und schaltete den Wasserkocher an. Fünfzehn Minuten später fuhr sie mit dem halben Croissant in der Hand rückwärts durch ihr Tor.
Gemma wohnte in einer Mietwohnung in Hillsborough. Roz hatte sie ein- oder zweimal dort abgeholt, war aber nie in der Wohnung gewesen. Das fiel ihr ein, als sie vor dem kleinen Reihenhaus hinter Lukes Motorrad anhielt, eine Vincent Black Shadow, der er mehr Zeit und Pflege widmete als sich selbst. »Das macht mich richtig arbeitsam«, hatte er Roz gegenüber einmal eingestanden. Er musste nach ihr Ausschau gehalten haben, denn er öffnete die Tür, als sie durchs Tor kam.
Sie folgte ihm ins Haus. Die Diele und das Treppenhaus wurden gemeinsam von allen Mietern genutzt und waren so dunkel und ungepflegt, wie das bei Durchgangsbereichen oft der Fall ist. Gemmas Wohnung lag im Erdgeschoss, die Tür links vom Eingang. Roz sah sich um, als sie hineinkam. Vermutlich ähnelte die Wohnung den zahlreichen möblierten Unterkünften, die in einer Gegend mit vielen, häufig wechselnden Mietern angeboten wurden. Gemma hatte die Sessel mit hellen Überwürfen bedeckt und die Wände in einem sanften, neutralen Farbton gestrichen, als hätte sie versucht, den Raum so unaufdringlich wie möglich zu gestalten, sodass er nur einen Hintergrund für sie abgab. Hier und da gab es Farbkleckse – das Grün einer Pflanze, eine Tischlampe mit pfauenblauem Schirm, ein Wandbehang in leuchtenden Farben, Kissen, die rot bestickt waren. Roz war von dem Wandbehang fasziniert. Er schien in dem nüchternen Zimmer von glühendem Leben erfüllt. Sie betrachtete ihn genauer und bewunderte die bunten Farben und die kunstvolle Webarbeit.
Luke stellte sich hinter sie. »Gemma hat ihn aus Dudinka mitgebracht«, sagte er. Gemma war drei Jahre in Russland gewesen, an der sibirischen Universität in Nowosibirsk, wo sie an ihrer Doktorarbeit schrieb. »Sie haben ihn ihr geschenkt, als sie ging. Sie kehrt dorthin zurück, wenn ihr Forschungsauftrag hier zu Ende ist.« Roz war überrascht. Sie hatte gedacht, dass Gemma eine Universitätskarriere in Großbritannien oder Amerika anstrebte.
Luke wandte sich von dem Wandteppich ab. »Hier entlang«, sagte er und führte sie durch eine kleine Küche, mehr eine Diele, ins Schlafzimmer, das im hinteren Teil des Hauses lag. Es war kleiner als das vordere Zimmer und nur mit einem Bett und einer kleinen Kommode möbliert, und am Kaminmantel war eine leere Kleiderstange befestigt. Unter dem Fenster stand Gemmas Schreibtisch mit ihrem Computer. Der Bildschirmschoner zeigte komplizierte Muster in immer neuen Farben. Luke ging hin und sagte: »Sieh mal.« Er öffnete mit einem Mausklick
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