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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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war. Sie war müde. So müde. Und sie hatte Hunger. Fort, fort, fort. Aber es war nicht so leicht. Sie wusste nicht, wohin sie gehen konnte. Ohne Geld, ohne Pass. Sie musste unbedingt die Sachen aus ihrem Zimmer holen. Sie konnte sie nicht dort lassen, jetzt nicht mehr, nach all der Arbeit und der Zeit und den Plänen.
    Es kam ihr vor, als schwebe ihr Kopf frei über ihr, und alles, was sie hörte, schien aus großer Entfernung zu kommen. Sie war die letzten drei Nächte in der Stadt herumgelaufen – immer in Bewegung bleiben, immer weitergehen –, kauerte sich am Tag auf Parkbänken zusammen, nickte ein und glaubte, eine trügerische Wärme steige in ihr hoch, aber dann schreckte sie zusammen und wachte auf, weil sie von der Bank zu rutschen drohte. Als sie noch Geld hatte, war sie Bus gefahren, immer auf dem oberen Deck, weil sie von der Straße aus nicht gesehen werden wollte. Wenn dann richtige, wohlige Wärme ihrem Gesicht, den Füßen und Händen die Taubheit nahm, schlief sie ein, schrak plötzlich auf und merkte, dass sie allein war und Schritte die Treppe heraufkamen.
    »… da drin? Ich habe gesagt, sind Sie …« Sie sprang auf, und die Kälte war wieder da. Es wurde an der Tür gerüttelt. Zuerst verstand sie nicht, was die Stimme sagte. Sie zitterte, holte tief Luft. Ruhig, ruhig. »Alles in Ordnung«, sagte sie und war erleichtert, dass ihre Stimme nicht stockte. »Mir ist nur ein bisschen schlecht. Im Magen.«
    Sie hörte Stimmen und Schritte, konnte nicht verstehen, was sie sagten. Mit dem feuchten, seifigen Tuch wischte sie sich übers Gesicht und rieb so lange, bis es sich sauber anfühlte. Dann nahm sie ihren Schal ab, strich ihr Haar streng nach hinten und band den Schal wieder fest. Es gab keinen Spiegel. Aber jetzt fühlte sie sich ein bisschen besser. Sie nahm ihre Tasche und öffnete die Tür der Kabine. Sie spürte die Blicke aller wartenden Frauen auf sich ruhen und bemerkte, dass auch die Klofrau sie wieder beobachtete. Sie brachte ein Lächeln zustande. »Danke«, sagte sie. »Nur ein bisschen schlecht …«
    Die Frau beachtete sie nicht. Als Anna die Tür hinter sich schloss, hörte sie die Stimmen: »… da hingehen, wo sie hergekommen sind …« Anna ging durch eine Möbelabteilung, wo Spiegel an den Wänden hingen und auf Frisierkommoden und an Kleiderschränken angebracht waren. Sie sah eine Frau mit einer zerknitterten Jacke und fleckiger Hose, deren zerzauste Haare unter einem Schal hervorsahen, und eine voll gestopfte Tasche hing an ihrem Arm. Sie blieb stehen und drehte sich um. Die Frau war dort, hinter ihr und vor ihr. Als sie immer schneller durch die Gänge lief, und die Frau sich umdrehte und abbog, folgte sie ihr, bis sie an ein Geländer stieß und nicht weiter konnte.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie ein junger Mann im Anzug. Seine Mundwinkel waren nach unten gezogen, und die Nasenflügel blähten sich leicht. Ja! Hilf mir, hätte Anna gerne gesagt, dann merkte sie, dass er sie nicht einmal sah. Sie war nur Unrat, eine Belästigung, etwas, das man loswerden musste. Sie konnte ihre Kleider riechen, dumpf und ungewaschen. Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie versuchte, sie zurückzuhalten. Er sah sie nicht an. Er hatte sich umgedreht und hielt Ausschau nach jemandem, der ihm helfen konnte.
    »Ich wollte zum Ausgang.« Annas Stimme war nur ein Flüstern. Er streckte die Hand aus, um Anna in die richtige Richtung zu lenken, zog sie aber dann zurück. Stattdessen deutete er nur, und sie sah, dass sie sich gegenüber dem oberen Ende der Rolltreppe befand. Das Geländer war eine schützende Brüstung über der Treppe. Sie ging tastend an dem Geländer entlang und um die Ecke und hatte Angst zu fallen, denn sie traute ihren Augen nicht zu, dass sie den Weg für sie finden konnten. »Danke«, sagte sie leise.
    Er folgte ihr und sah ihr nach, bis sie auf der Rolltreppe stand. Sie bemerkte, dass er zu einem Mann mit Schirmmütze und Achselschnur auf dem Hemd sprach, der sie hinunterbegleitete, ein, zwei, drei Stockwerke. Da lag der Ausgang vor ihr. Als sie weiterging, ließ der Anblick der Schirmmütze und der Achselschnüre ihre Beine zittern, bis sie die sichere Straße erreicht hatte.
    Sie würde zu ihrem Zimmer zurückgehen müssen.

6
    Hull, Montag
    Der Fall Dornröschen faszinierte Lynne. Sie hatte nicht die Absicht, sich in Dinge einzumischen, die nicht ihre Aufgabe waren. Aber Roy Farnham hatte sie aufgefordert, ihre Meinung zu sagen und

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