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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Katja war hierher gekommen. Vielleicht kamen auch die Frauen, die sie suchte, hierher. Wenn das der Fall war, wie viel wussten Pearse und Rafiq? Würden sie ihr helfen? Sie musste vorsichtig sein. Sie wollte das Eis brechen, die argwöhnische Wachsamkeit der Frau durchdringen, aber das unbewegliche Gesicht, das sie beobachtete, zeigte keine Anzeichen von Entspannung. Obwohl Rafiq nur gebrochen Englisch sprach, war Lynne ziemlich sicher, dass sie sie gut verstehen konnte. »Könnte ich mit Ihnen sprechen?«, sagte sie.
    Rafiq runzelte leicht die Stirn. Ratlosigkeit. Sie zuckte flüchtig die Schultern. Was meinst du, was du gerade tust?
    »Mrs. Rafiq«, fing Lynne noch einmal an, »ich muss nur ein paar Dinge klären.«
    Rafiqs Gesicht blieb ausdruckslos. Sie wartete, bis Lynne ihr sagte, was sie wollte. Lynne nahm das Buch in die Hand. Es diente zur Prüfungsvorbereitung für Business English: Briefe, kurze Mitteilungen, Berichte. »Lernen Sie Englisch?«, fragte sie.
    Rafiq nickte bei dieser nahe liegenden Frage. »Ich … für hier«, erklärte sie. »Und später, vielleicht Arbeit.«
    Lynne war Rafiqs Status nicht klar. »Woher kommen Sie, Mrs. Rafiq?«, fragte sie. »Wie lange sind Sie schon hier?«
    Als Antwort nahm die Frau ihre Handtasche aus der Schreibtischschublade und zog ihren Pass heraus. Dabei rutschte eine Karte heraus und fiel auf den Boden. Lynne hob sie auf und nahm den Pass, den ihr die Frau hinhielt. So hatte Lynne das nicht gemeint, aber trotzdem war sie froh, mehr Information über die Frau zu bekommen. Sie sah den Pass an und bemerkte, dass Rafiq ein Bleiberecht als Besucherin und Verwandte hatte. Sie reiste mit ihrem Sohn, und Lynne betrachtete das Foto des pausbäckigen Kindes. »Wie alt ist Ihr Kleiner?«, fragte sie, sah das Bild wieder an und sagte: »Er ist süß.«
    Rafiqs ausdruckslose Miene entspannte sich einen Augenblick und wich einem aufrichtigen, warmherzigen Lächeln. »Javid«, sagte sie. »Er ist sechs. Er ist … jetzt Schule.«
    »Wo arbeitet Ihr Mann, Mrs. Rafiq?«, fragte Lynne.
    »An Universität«, sagte Rafiq. »Ist Ingenieur. Dozent.« In ihrem gebrochenen Englisch erklärte sie weiter, dass ihr Mann seit einem Jahr in diesem Land arbeite und einen Vertrag für drei weitere Jahre habe. Sie sei seit sechs Monaten hier, nachdem sie gewartet hatte, bis ihr Mann sich eingerichtet und sie alle nötigen Papiere hatte.
    Lynne sah die Karte an, die aus Rafiqs Tasche gefallen war. Es war ein Terminzettel der Kinderklinik für Javid Rafiq. Lynne gab ihn ihr zurück und sagte: »Ist Ihr Sohn krank? Ich hoffe, es ist nichts Ernstes.«
    Rafiq sah sie einen Moment schweigend an, als wäge sie ihre Antwort ab. Dann erklärte sie zögernd, ihr Sohn habe Probleme mit den Augen. Lynne war sich wegen Rafiqs mäßiger Englischkenntnisse nicht sicher, aber es klang, als sei der Sehnerv des Kindes angegriffen und als würde er ohne Behandlung erblinden. Deshalb war ihr Mann an eine englische Universität gegangen. »Therapie ist besser hier«, sagte Rafiq, fügte aber gleich hinzu: »Wir bezahlen.«
    Lynne sagte: »Das tut mir Leid mit Ihrem Sohn. Ich hoffe, dass die Behandlung Erfolg haben wird.« Sie lächelte der Frau beruhigend zu. Nach kurzem Schweigen kam Lynne zum wirklichen Grund ihres Besuchs. Sie nahm das Foto von Katja aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch, sodass sie beide es sehen konnten.
    Sie erklärte, mit welcher Art Frauen sie Kontakt suchte und dass sie befürchte, die Frauen könnten bei der Art von Geschäften, die in der Gegend liefen, Gefahren ausgesetzt sein, weil sie sogar von dem bisschen gesetzlichen Schutz abgeschnitten seien, den Prostituierte hatten. Rafiq hörte gelassen zu, und Lynne wusste nicht, wie viel sie verstand. Schließlich nahm sie das Foto in die Hand. »Diese Frau«, sagte sie, »sie kam hierher zu Ihnen. Vielleicht hat es auch schon andere gegeben. Ich kann ihnen helfen.«
    Rafiq schaute einen Moment auf das Foto und strich mit den Fingern über das Papier, als berühre sie die Frau selbst. Sie seufzte und sagte: »Ist schlimm.« Dann warf sie Lynne einen langen Blick zu und sagte: »Sozialarbeit.« Sie griff hinter sich in das Regal und nahm eine Handvoll Merkblätter heraus. »Für Mutter, Baby.« Sie wies auf die Liste an der Wand hinter sich. »Wohnungen, Ärzte, Klinik, Sozialleistungen. Hilfe. Nicht …« Sie machte kreisende Bewegungen über dem Foto. Lynne verstand. Rafiq wollte ihr sagen, dass dies ein Zentrum für Beratung und

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