Nachtengel
sagte er und kam hastig hinter dem Schreibtisch hervor. »Elizabeth ist mal kurz rausgegangen.« Dann sah er sie noch einmal an und sagte: »Rosalind.«
»Roz«, antwortete sie automatisch. Nur Nathan nannte sie Rosalind. Dann fiel ihr ein, wer er war: Der junge Mann von Joannas Party, der Aufsteiger, wie hieß er noch? Steve …? Sean. »Sean«, sagte sie.
Er schien erfreut, dass sie sich an ihn erinnerte. »Ich wusste nicht …«, setzte er an, als Roz ihrerseits sagte: »Ich dachte, Sie …«
Beide lachten, das Eis war gebrochen, und er gab Roz ein Zeichen, weiterzusprechen. »Ich dachte, Sie seien in Martin Lomax' Abteilung«, sagte Roz.
»Jaja, das stimmt. Ich helfe hier nur aus.« Er kam um den Schreibtisch herum auf sie zu. »Elizabeth ist zum Kopierer gegangen«, sagte er. »Ich habe hier nur die Noten von ein paar Studenten nachgesehen. Was ich eigentlich nicht tun sollte«, fügte er mit verschwörerischem Lächeln hinzu. Er hatte jene selbstverständliche Selbstsicherheit, die Roz immer mit Wohlstand und gehobener Bildung auf Privatschulen in Verbindung brachte, und er wirkte dadurch älter, als er wahrscheinlich war.
Roz erinnerte sich, dass er sich auf der Party für sie interessiert hatte, was ihr damals schmeichelte, aber sie wollte ihn jetzt nicht ermutigen. »Ich suche Professor Holbrook«, sagte sie knapp.
Er sah sie an. »Marcus … er ist zur Zeit hier, aber im Moment, glaube ich, nicht im Haus. Er ist eigentlich nicht …«
Holbrook hatte eine beratende Funktion, das war Roz bekannt. Sie wusste auch, dass er noch in der Forschung tätig war. Sie kannte mehrere solcher Leute, die sich nicht entschließen konnten, auf ihre akademische Tätigkeit zu verzichten, die sich ewig im Aufenthaltsraum der Dozenten aufhielten, Platz in den Bibliotheken beanspruchten und lautstark auf Büros in den Abteilungen bestanden, denen sie früher angehört hatten. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«
»Vielleicht kann ich Ihnen auch helfen.« Er konzentrierte sich jetzt ganz auf sie, saß halb auf dem Schreibtisch der Sekretärin und hatte die neben ihm liegenden Papiere vergessen. »Ich arbeite gerade an einer Sache mit Marcus. Was wollten Sie von ihm?«
Roz wollte nicht mit ihm darüber sprechen, fühlte sich in die Enge gedrängt, und ihre Antwort fiel deshalb schärfer aus als beabsichtigt. »Das würde ich lieber mit Professor Holbrook besprechen.«
Einen Augenblick sah er ärgerlich aus, schien sich dann aber an etwas zu erinnern. »Sie arbeiten doch mit Gemma … haben mit Gemma zusammengearbeitet.« Er fühlte sich offensichtlich unwohl.
»Ja.« Roz schaute ihn an. »Was wissen Sie über Gemma?«
Er sah ehrlich verlegen aus und lächelte nicht mehr. »Ich habe zuerst nicht geschaltet, als ich es hörte. Sie … war einfach Gemma vom Linguistischen Seminar. Dann« – er strich mit der Fußspitze über den Teppich – »wollte sie sich unser Archiv ansehen. Marcus' Archiv.« Er blickte auf, ob sie wusste, wovon er sprach. »Russisch. Wir erstellen ein Archiv mit Aufnahmen von gesprochenem Russisch. Es ist Marcus' Fachgebiet.«
Das Holbrook-Archiv. Das beantwortete die Frage, ob sie mit Holbrook Kontakt aufgenommen hatte oder nicht. Roz erinnerte sich an den angefangenen Brief auf dem Laptop, in dem gestanden hatte, das Archiv werde zur Zeit katalogisiert. »Sie entwickeln die Software?«, fragte sie.
Er nickte. »Er hat meine Abteilung um Hilfe gebeten. Ich war zufällig da und hatte ein paar Ideen, die Marcus cool fand, und da sagte ich: Warum eigentlich nicht?« Er zuckte die Schultern. »Man überanstrengt sich hier nicht, wissen Sie.« Der Tonfall lud dazu ein zu ergänzen: In einem elenden Saftladen wie dem hier. Roz' Miene blieb ernst. »Jetzt, wo ich mich eingearbeitet habe, finde ich das Thema Computer und Sprache gut, es ist etwas Besonderes.« Er lächelte ihr zu. »Ihre Chefin hat mit mir darüber gesprochen. Sie sagt, es gäbe vielleicht bei Ihnen eine Möglichkeit.« Er begegnete ihrem Blick. »Ich glaube fast, ich könnte mich überreden lassen.«
Er betrachtete sie mit kaum verhohlenem Interesse. Roz wurde auf Joanna ärgerlich, was sie auf Sean übertrug, was wahrscheinlich nicht fair war. Aber sie war sowieso nicht in der Stimmung für Flirts mit jungen Männern und sagte: »Ich muss wirklich Professor Holbrook sprechen.«
Wieder schien er verärgert. Er sah jünger aus als auf Joannas Party. »Vielleicht ist er Kaffee trinken gegangen«, sagte er nach kurzem
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