Nachtengel
die Stirn und sagte traurig: »Armes Kind.«
Sheffield, Mittwochnachmittag
Roz saß den ganzen Nachmittag über Gemmas Bericht und der Niederschrift, die sie in der Laptop-Tasche gefunden hatte. Gemma hatte den auf dem Band aufgenommenen Text abgeschrieben und die Stellen, die sie noch näher untersuchen wollte, unterstrichen oder mit Textmarker hervorgehoben. Neben diesen Zeilen gab es phonetische Zeichen für die Aussprache und hingekritzelte Notizen für die endgültige Fassung des Berichts. Roz las den Text durch und verglich die Notizen mit Gemmas Ergebnissen. Alles schien geklärt, bis auf die fraglichen Zeilen und den mysteriösen Hinweis auf den Begriff ›cats‹.
Alle fraglichen Stellen befanden sich in den Textpassagen, wo die Frau mit ihrem Englisch nicht weiterkam und Russisch sprach. Roz konnte nicht gut Russisch, aber Gemma hatte die Stellen übersetzt. Die Frau auf dem Band beantwortete Fragen, die Gemma nicht aufgeschrieben hatte, sodass Roz versuchen musste, diese Fragen zu rekonstruieren, um herauszubekommen, was die Frau meinte. Roz hatte Gemmas Tonkassette nicht gefunden; als sie und Luke ihr Büro durchsuchten, war es nicht da, und sie hatte keinen triftigen Grund, DI Jordan um eine zusätzliche Kopie zu bitten. Sie betrachtete Zeile 204 der Niederschrift: Ich … Ba-yi-n-sal … ich bleibe … ich Freundin. Bei dieser Stelle stand keine Übersetzung – vielleicht bedeutete es einfach: ›Ich bleibe‹ oder ›Ich werde bleiben‹. Die Zeilen davor und danach klangen, als frage jemand die Frau, was sie zu tun vorhabe. Ich habe Wohnung und Ich gehe. Roz konnte keinen Grund dafür sehen, warum Gemma dies in Frage gestellt haben sollte. Zeile 127 hatte Gemma als unverständlich bezeichnet, aber dafür jugun ?? mitten in die Zeile hineingeschrieben. Auch Zeile 25 war als unleserlich markiert und das Wort di am Zeilenende mit Fragezeichen versehen.
Roz dachte nach und tippte mit dem Bleistift gegen ihre Zähne. Das hatte Luke immer rasend gemacht. »Mensch, Bishop!«, hatte er gesagt. »Du willst wohl, dass ich durchdrehe, oder was?« Sie dachte bereits in der Vergangenheitsform an Luke. Nachdem es ihr für eine Weile gelungen war, sich abzulenken, brachen erneut die Ereignisse des Vorabends über sie herein. Sie sah auf die Uhr. Es war drei. Vielleicht sollte sie versuchen, Marcus Holbrook zu finden und zu ergründen, was es mit diesem Archiv auf sich hatte und ob es Gemma gelungen war, dort zu arbeiten, und wenn ja, was sie gesucht hatte. Vielleicht konnte sie jemanden ausfindig machen, der die Teile der Niederschrift übersetzen könnte, die Gemma nicht klar gewesen waren. Sie schrieb die Zeilen sorgfältig ab und steckte die Notizen in ihre Aktentasche.
Das Seminargebäude, in das sie gehen musste, war zehn Minuten vom Arts Tower entfernt in einem der alten, für die Gegend typischen Häuser aus rotem Backstein untergebracht, die nach und nach von der Universität übernommen worden waren. Es lag in einer Straße, die früher einmal eine ruhige Sackgasse gewesen sein musste, aber jetzt von parkenden Autos verstopft war. Studenten schlenderten in Dreier- und Vierergruppen auf den Gehwegen und der Straße.
Das Seminar für Europäische Studien befand sich links auf halber Höhe der Straße. Eine Studentengruppe stand rauchend auf den Eingangsstufen. Trotz der Kälte trugen sie leichte Tops, T-Shirts, Sommerkleidung, all ihre Unterlagen steckten in Rucksäcken, sie waren entspannt und selbstbewusst. Roz erinnerte sich, wie unsicher sie als Teenager gewesen war, und fragte sich, ob es ihr als Studentin gelungen wäre, sich diesen Anschein der Selbstsicherheit zu geben. Als sie auf den Eingang zusteuerte, traten einige der Studenten zur Seite. Roz wurde plötzlich ärgerlich und ging zwischen ihnen hindurch, statt die schmale Gasse zu nutzen, die sie für sie gebildet hatten. »Entschuldigung«, sagte sie. Und als sich die Lücke schweigend hinter ihr schloss, nachsichtiger: »Danke.« Als sie durch die Tür gegangen war, hörte sie die Unterhaltung und das Lachen wieder aufleben.
In dem kleinen Eingangsbereich war links die Treppe und vor ihr ein schwarzes Brett. Sie sah sich um. An einer Tür rechts von ihr stand BÜRO und zur Linken, von der Treppe fast verdeckt, AUSKUNFT. Sie zögerte einen Augenblick und ging zum Büro, klopfte und trat ein. Der Raum war leer, nur ein junger Mann blätterte in Unterlagen auf einem der Schreibtische. Er sah auf und lächelte schuldbewusst. »Oh«,
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