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Nachtengel

Titel: Nachtengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Danuta Reah
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Rücksicht auf die Kälte zog Anna sich aus und benutzte ihr T-Shirt als Schwamm. Für ihre Haare konnte sie nichts tun, aber sie zog die Kleider an, die Nasim ihr gegeben hatte, und fühlte sich seit Tagen zum ersten Mal wieder sauber. Der kurze Energiestoß nach dem süßen Tee klang bereits wieder ab, und Erschöpfung und Müdigkeit machten ihre Glieder schwer. Sie wollte wieder schlafen, immer nur schlafen und vielleicht nicht wieder aufwachen, sondern in der Welt der Träume verweilen, in denen sie bei ihrer Mutter, bei Krischa, ihren Freunden und auf dem Bauernhof sein konnte …
    Das Wasser tropfte ins Becken, und Rauchgeruch lag in der Luft, ein schwach durchsichtiger Duschvorhang mit etwas dahinter, und Krischas Puppe auf dem Boden, von einem achtlosen Fuß zertreten. Eine Welle von Schwindel und Übelkeit überkam sie, und sie klammerte sich am Waschbecken fest und wartete, bis es vorbeiging. Der Geruch nach einem Desinfektionsmittel war jetzt stärker, und sie ging in den Hof zurück, lehnte sich an die Wand des Klohäuschens und atmete die kalte Luft ein, bis die Übelkeit vorbei war. Als sie die Augen öffnete, sah sie Nasim, die ihr von der Tür her heftig winkte. Sie erkannte die ungeduldige Geste, die sie an ihre Mutter erinnerte. Komm doch rein aus der Kälte! Geh doch aus dem Regen! Anna, du wirst noch krank! Nasim sah sie an, runzelte die Stirn und berührte mit einer Hand ihr Gesicht. Die Hand fühlte sich kalt an. Missbilligend führte sie Anna in das Zimmer zurück, in dem sie die Nacht verbracht hatte. Das Öfchen war eingeschaltet, und ein Teller mit dreieckigem Gebäck stand auf der Armlehne der Couch.
    Anna setzte sich und begann unter Nasims strengem Blick die kleinen, würzigen Stückchen zu essen. Ihr Magen hatte heißhungrig nach dem süßen Tee verlangt, aber jetzt schien ihr der Appetit vergangen zu sein, und die Übelkeit kam wieder. Sie aß zwei Gebäckstückchen und schlürfte Wasser dazu, um sie leichter schlucken zu können. Nasim schien zu verstehen, und ihre strenge Miene wurde freundlicher, als Anna das zweite Stückchen gegessen hatte. »Ruh dich aus«, sagte sie.
    Anna wollte sowieso nichts tun, doch sie musste planen, wusste aber nicht, wohin sie gehen konnte und ob der Späher es geschafft hatte, ihr zur Beratungsstelle zu folgen, und ob Angel draußen auf den Straßen lauerte und nur auf die Dunkelheit wartete. »Matthew …?«, sagte sie zu Nasim. Vielleicht wusste Matthew Rat.
    Nasim schüttelte den Kopf und zeigte auf ihre Uhr. »Später«, erwiderte sie. Die Glocke klingelte, und die Tür zur Straße ging auf. Nasim sah Anna an und legte den Finger an die Lippen. »Ausruhen«, sagte sie flüsternd und verschwand durch die Tür zum Büro. Anna konnte nichts anderes tun. Die Woge der Erschöpfung überwältigte sie. Sie wickelte sich in die Decke, da ihr trotz des Ofens kalt war, und legte sich auf die Couch.
    Als Lynne die Tür der Beratungsstelle aufstieß, waren keine Hilfesuchenden da. Sie ging direkt um den Tisch herum und in das Büro, wo Nasim Rafiq, von der Glocke gerufen, mit einem Gesichtsausdruck, den Lynne nicht deuten konnte und der sich sofort zu unverbindlicher Höflichkeit wandelte, hinter dem Schreibtisch hervorkam. Die Tür, die hinten aus dem Zimmer in eine kleine Küche führte, war offen. Lynne sah eine Tasse und einen kleinen Topf auf der Arbeitsplatte. Im Büro stand die alte mechanische Schreibmaschine mit einem eingespannten Blatt Papier. Ein Buch lag aufgeschlagen, die Seiten nach unten, auf dem Schreibtisch. Da Lynne die Fähigkeit, aus praktisch jeder Position lesen zu können, bis zur Perfektion entwickelt hatte, entzifferte sie den Titel: Intermediate Business English, BEC 2. Sie warf Rafiq ein Lächeln zu und sagte: »Wieder ruhig heute.«
    Rafiq ging zur anderen Tür und machte sie zu. »Zieht«, erklärte sie. Lynne nickte. Es war kalt im Büro. Aber sie glaubte nicht, dass es helfen würde, die Tür zu schließen. Rafiq setzte sich vor die Schreibmaschine. Lynne zog einen Stuhl an den Schreibtisch heran und nahm ihr gegenüber Platz. Nach einer Weile sagte Rafiq: »Ist meistens ruhig, aber manchmal viel los.«
    Lynne wünschte sich, dass diese Frau mit ihr zusammenarbeitete. Sie hatte das Gefühl, dass die verwahrloste und anscheinend von niemandem überwachte Beratungsstelle ein nützlicher Treffpunkt für Einwanderer in Schwierigkeiten sein könnte – und für die Leute, die ihnen vielleicht halfen. Es würde sich herumsprechen.

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