Nachtfalter
loszufahren. Was hätte ich tun sollen? Er stand unter Drogen, er hielt eine Waffe in der Hand und konnte auch mich erschießen. Ich gab Gas, und wir sausten davon. Makis lotste mich an die Stelle, wo wir das Motorrad stehenließen. Und in der nächsten Querstraße hatte er den Wagen abgestellt. Wir setzten uns rein und fuhren los.«
»Haben Sie sich nicht gewundert, wo er den Wagen herhatte?«
»Er sagte, es sei ein Mietwagen. Wenn Sie nachforschen, werden Sie herausfinden, bei welcher Firma er ihn ausgeliehen hat.«
»Und was ist mit der weißen Perücke?«
»Die hatte er bei sich und setzte sie auf, während er sich versteckt hatte. Im Wagen nahm er sie ab und steckte sie wieder ein.«
»Und warum haben Sie den Mord nicht bei der Polizei gemeldet, als Makis weg war?«
»Aus zwei Gründen, Herr Kommissar. Den ersten kennen Sie bereits. Ich konnte meinen Bruder genausowenig der Polizei ausliefern, weil er meinen Vater ermordet hat, wie ich meinen Vater ausliefern konnte, weil er meinen Freund umbringen ließ. Der zweite Grund ist: Es hat keinen Sinn, Makis ins Gefängnis zu bringen. Mein Vater hat das Leben jedes einzelnen von uns zerstört. Er hat Makis zu dem gemacht, was er heute ist, er hat meinen Freund auf dem Gewissen, er hat Elena von ihrem behinderten Sohn getrennt … Und all das nur des Geldes wegen, als hätte ihm das, was er ohnehin schon besaß, noch immer nicht gereicht.«
Zum ersten Mal höre ich Haß und Leidenschaft aus ihrer Stimme heraus. Ich sehe, daß Vlassopoulos und Dermitzakis mit offenem Mund dastehen. Und mit Recht. Der Plan war viel raffinierter als ich es mir ausgemalt hatte. Sie hatte Makis davon überzeugt, ihren Vater zu töten, es jedoch so arrangiert, daß sie nötigenfalls alles auf ihren Bruder, den Junkie, abwälzen konnte.
»Und der Weißhaarige, den Sie Ihren Angaben nach mit Petroulias’ Begleitern gesehen haben?«
»Sie haben mir ein Phantombild gezeigt, und ich habe Ihnen gesagt, daß er dem Mann ähnelt, den ich auf der Insel gesehen habe. Das Phantombild hat gar keine Ähnlichkeit mit Makis. Außerdem war Makis in Athen, als Christos umgebracht wurde, und das kann er beweisen.«
»Es gab keinen Weißhaarigen. Das haben Sie absichtlich erzählt, um eine falsche Spur zu legen.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Sie müssen nur den anderen Weißhaarigen auftreiben.«
Sie weiß, daß wir ihn nicht finden werden, weil es ihn nicht gibt. »All das können Sie in Ihrem Plädoyer ausführen«, meine ich. »Obwohl sich kein Gericht finden wird, das Ihnen Glauben schenkt.«
»Sie täuschen sich«, sagt sie. »Ich bin ein Opfer. Ich habe mit eigenen Augen zusehen müssen, wie die Leute meines Vaters meinen Geliebten getötet haben und wie mein Bruder meinen Vater hingerichtet hat. Welches Gericht wird nicht Verständnis für die zweifache Tragödie aufbringen, die ich durchlitten habe? Man wird mich höchstens zu ein paar Jahren auf Bewährung verurteilen.«
Als wolle sie ihr Selbstvertrauen stärken, eilt Elena Kousta auf sie zu und schließt sie in die Arme. »Keine Angst, mein Schatz, du landest nicht im Gefängnis«, sagt sie. »Ich engagiere die besten Rechtsanwälte. Man wird dich freisprechen.«
So wie sie Elena überzeugt hat, wird sie auch das Gericht auf ihre Seite ziehen. Die Geschworenen werden sie anhören und zu Tränen gerührt sein. Vielleicht hätte ich Mitgefühl mit ihr, wenn sie nicht alles auf ihren Bruder abwälzen würde. Denn im Endeffekt ist sie ja tatsächlich ein Opfer.
Niki drückt Elena an sich. »Ich danke dir, Elena«, flüstert sie. »Gott sei Dank gibt es dich. Ich weiß, daß du mir helfen wirst, meine Unschuld zu beweisen.«
»Und Ihren Bruder lassen Sie im Gefängnis krepieren«, meine ich.
»Niemand hat mehr für Makis getan als ich, Herr Kommissar«, antwortet sie verärgert. »Ich habe ihn nicht auf dem Gewissen. Makis hat sich an dem Tag aufgegeben, als er den Drogen mit Haut und Haaren verfallen ist.«
Er ist schon tot, warum also soll ich sterben? So denkt sie. Sie ist hochintelligent und hat ihren Vater dennoch aus Liebesleidenschaft getötet. Die Liebe hatte ihren Scharfblick vernebelt, und sie durchschaute nicht, daß sie ein Spielball zwischen ihrem Vater und ihrem Liebhaber war.
»Wollen Sie vielleicht etwas mitnehmen?« fragt Vlassopoulos.
»Nicht nötig. Morgen werde ich gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt.«
Sie geht auf die Tür zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Vlassopoulos folgt ihr, und ich höre, wie
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