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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Sylphs ausgebreitete Segel hinab – üppiges schwarzes Fell mit Silberstreifen, drei Krallen an jeder Hand – und fragte sich, wie sie beide, von derselben Mutter innerhalb weniger Augenblicke geboren, so verschieden sein konnten. Ihm gefiel es nicht, wie sich seine Arm- und Fingerknochen unter den straffen, haarlosen Segeln abzeichneten.
    Von den mächtigen Ästen des Mammutbaums gingen dünnere Äste und Zweige ab, die sich leicht zur Lichtung hin neigten. Vor allem diese nutzten die Chiropter als Jagdsitze, weil sie eine hervorragende Aussicht auf Beute boten und gleichzeitig gut geeignete Startplätze waren. An einem guten Platz wurde eifersüchtig festgehalten, und sobald ein Chiropter alt genug war, um Gefährten zu finden, wurde von ihm erwartet, dass er einen Jagdsitz fand und in Besitz nahm und diesen dann bis zu seinem Lebensende hielt. Dämmer und Sylph durften noch den Jagdsitz ihrer Eltern benutzen, und der tauchte jetzt vor Dämmer auf.
    Nun war er nicht mehr ganz so beschwingt und blickte sich suchend nach seinem Vater um. Zuerst hatte er verzweifelt gehofft, sein Vater würde ihn schweben sehen und erkennen, wie schlau sein Sohn war, doch jetzt nach all den strengen Blicken aus der Kolonie war er sich gar nicht mehr so sicher, wie sein Vater reagieren würde. Niemand hatte ihm je gesagt, dass er die Thermiken nicht reiten sollte. Es war überhaupt nie darüber gesprochen worden. Er konnte seine Eltern nirgends sehen. Aber vielleicht war das auch besser so.
    Er sah sich nach Sylph um. Sie war immer noch dort unter ihm und machte ihre Sache gut. Ein bisschen hatte er allerdings gehofft, sie würde aus der Thermik rutschen, damit er alleine glorreich an den Sitzplätzen vorbei aufsteigen konnte.
    »Weißt du, kleiner Bruder!«, bemerkte sie. »Aus dieser Position hier siehst du besonders komisch aus.«
    »Weißt du, große Schwester«, sagte Dämmer und blickte zu ihr hinunter. »Aus dieser Position hier wäre es besonders bedauerlich, wenn ich jetzt pinkeln müsste.«
    »Untersteh dich«, sagte Sylph.
    »Und übrigens hab ich gewonnen«, sagte er. »Als Erster an unserem Sitzplatz.«
    »Du hast den Sitzplatz nicht erreicht«, sagte sie. »Wir sind nur an ihm vorbeigeschwebt. Der Sieger muss auf dem Sitzplatz sein. Und da ich unter dir bin, sieht es so aus, als ob ich in Führung liege.«
    »Aber ich bin schneller«, konterte Dämmer.
    »Aber so viel schneller auch nicht.«
    Er wusste, dass sie recht hatte. Zu ihrem Platz würde sie ihn wahrscheinlich schlagen.
    »Dann geh schon mal vor«, sagte er. »Die Thermik ist noch stark. Ich will noch nicht aufhören zu fliegen.«
    »Schließlich hast du schon immer ein Vogel sein wollen«, sagte sie.
    Es war ein Spaß innerhalb ihrer Familie – und dank Sylph auch außerhalb: Ihr Vater erzählte gerne die Geschichte, wie Dämmer bei seinem ersten Gleitunterricht versucht hatte zu flattern. Und wenn Sylph ihn besonders reizen wollte, schlug sie mit den Segeln und sagte: »Oh, ich glaub, ich schaffe es jetzt. Ich hebe ab. Nur noch ein bisschen mehr!« Dämmer hatte seine Lektion schnell gelernt und niemandem etwas über seine heimlichen Besuche am Oberen Holm erzählt. Sein unnormales Bedürfnis beschämte ihn sehr, doch er hatte wohl nicht die Stärke, es zu unterdrücken.
    »He, glaubst du, das trägt uns bis über die Baumwipfel?«, fragte Sylph.
    »Ich weiß nicht«, sagte Dämmer. »Jedenfalls sind wir schon fast am Oberen Holm.«
    »Na und?«
    »Papa hat aber gesagt …«
    »Du musst nicht immer das tun, was Papa sagt«, meinte Sylph ungeduldig. »Sei nicht so neugeboren.«
    »Wir sind aber noch Neugeborene, bis wir ein Jahr alt sind.«
    »Willst du nicht über die Baumwipfel hinaussehen?«
    »Das ist das Gebiet der Vögel«, sagte er.
    »Na, du bist doch praktisch ein Vogel, oder?«, sagte sie kichernd.
    »Den Vögeln wird das nicht gefallen«, antwortete er nur.
    »Aber die fliegen doch auch die ganze Zeit durch unser Gebiet, um auf den Boden zu kommen«, meinte Sylph. »Und wir haben nichts dagegen.«
    »Genau«, stimmte Dämmer ihr zu, weil er nicht zu gehorsam wirken wollte. »Wir landen ja schließlich nicht auf ihren Schlafstellen.«
    »Wir schweben nur an ihnen vorbei.«
    »Gerade bis zur Krone, damit wir den Himmel besser sehen können«, fügte Dämmer noch hinzu.
    Sylphs Zuversicht machte ihn mutiger. Aber er hörte die Stimme seines Vaters im Kopf. Dämmer war niemand, der so einfach gegen die Regeln verstieß, das war eher Sylph. Er

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