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Nachtflügel

Nachtflügel

Titel: Nachtflügel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Oppel
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Atem an.
    Dämmer blickte nach oben in den Mammutbaum und sah direkt über sich die Kreatur verfangen in den Ästen hängen. Der riesige Körper völlig verkrümmt, die großen Flügel durchbohrt und zerknittert, der lange Kopf baumelte über einen Ast herab, der scharfe Schnabel keine drei Meter über Dämmers Kopf. Er folgte den furchterregenden, knochigen Bahnen seiner Kiefer bis zu den Nasenlöchern, deren Schlitze groß genug waren, dass er hätte hineinkriechen können. In den großen schwarzen Augen der Kreatur schien kein Leben zu leuchten.
    Dämmer hatte Angst, sich zu bewegen. War das Wesen tot oder nur bewusstlos? Ein Ast brach und Dämmer zuckte zusammen. Doch die Kreatur selbst rührte sich nicht. Allein schon von ihrer Größe war Dämmer völlig überwältigt. Sie hatte keine Federn, also konnte sie kein Vogel sein – aber ihre Kiefer sahen aus wie ein langer Schnabel. Er wusste absolut nicht, was das für ein Wesen sein mochte.
    Dann blickte er nach unten und bemerkte erschreckt, wie dicht er sich über dem Waldboden befand. Sein Herz klopfte wild. Wenn er nicht über den Boden kriechen wollte, müsste er in diesem Baum weiter nach oben klettern, um zu einem anderen gleiten zu können.
    Langsam kehrten die Geräusche in den Wald zurück. Hoffnungsvoll blickte er nach oben in die Lichtung, auf der Suche nach seinem Vater oder sonst einem Chiropter, aber er konnte keinen entdecken.
    Dann betrachtete er wieder die Kreatur, deren Körper so dick war wie der Baumstamm.
    Ein Ast knackte bedrohlich unter der Belastung. Hier konnte Dämmer nicht bleiben. Es war klar, dass das Wesen jederzeit direkt auf ihn herunterkrachen konnte. Er würde an ihm vorbei nach oben klettern müssen. Das war zwar möglich, würde ihn aber gefährlich nahe an seinem Kopf vorbeiführen.
    Nach einem solchen Absturz war es sicherlich tot. Sein Kamm war zerbrochen. Es musste mit dem Kopf zuerst gegen den Stamm geprallt sein. So etwas würde niemand überleben.
    Ganz vorsichtig bewegte sich Dämmer auf den Stamm zu. Wenn seine Krallen in das Holz einschlugen, kam ihm das ohrenbetäubend laut vor. Ein Teil des Flügels der Kreatur hing über den Ast herunter, und als Dämmer daran vorbeischlich, blickte er direkt auf die dicke, ledrige Haut.
    Dämmer zögerte. Der Flügel hatte keine Federn, doch das Wesen flog. Er hatte gedacht, das wäre unmöglich. Die Haut war über einen langen Holm aus Knochen gespannt. Andere Finger gab es genaugenommen keine.
    Auch wenn die Haut viel dicker war als seine eigene, fand er doch, dass die Flügel der Kreatur ein bisschen wie seine eigenen unbehaarten Segel aussahen. Das war ein verstörender, sogar widerlicher Gedanke und er verbannte ihn schnell.
    Am Stamm des Mammutbaums begann er seinen Aufstieg. Der Körper der Kreatur hing über ihm, dunkel und bedrohlich wie eine Gewitterwolke. Ihre feuchte Wärme umspülte ihn und seine Nasenlöcher verengten sich bei dem Geruch. Er hatte das Bedürfnis, sich zu putzen.
    Warum war das Wesen eigentlich abgestürzt? Und warum war es so unberechenbar geflogen?
    Aus der äußersten Spitze seines rechten Flügels standen drei Krallen hervor, jede doppelt so lang wie Dämmer. Er holte tief Luft und duckte sich schnell unter ihnen hindurch. Verglichen mit diesem Riesen war er nichts weiter als ein Winzling. Er wollte nichts mehr sehen, er wollte nur noch vorbei, zu seinem Baum segeln und zurück zum Nest klettern.
    Und doch schweifte sein Blick immer wieder hinüber zu dem Flügel, zu seiner Form, der feinen Schicht – die konnte er jetzt sehen – von Haaren, oder war das doch eine Art von Federn? Auf dem Flügel befanden sich seltsame Flecken verfaulter Haut. Vielleicht war die Kreatur krank und war deshalb so erbärmlich geflogen.
    Dämmer kletterte weiter, jetzt an dem hängenden Kopf des Wesens vorbei. Äste knackten. Er verspürte eine Luftbewegung und blickte langsam über die Schulter zurück. Die linke Flügelspitze zuckte und ließ die Membrane rascheln.
    Er wartete nicht länger ab. Er kletterte jetzt, so schnell er konnte, und achtete nicht mehr darauf, wie laut er war. Die Kreatur zuckte. Der Kopf verschob sich. Wenn Dämmer nur an den Kiefern vorbeikam, am Kopf und hinauf auf den nächsten Ast, dann könnte er über die Lichtung fliegen.
    Nun befand er sich neben dem linken Auge der Kreatur. Es war so groß wie er selbst, dieses Auge, schwarz und undurchdringlich. Erschrocken sah Dämmer sich darin gespiegelt, genau wie er sich manchmal in kleinen

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