Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
niemand machte auf dieser Welt irgendetwas, wenn er nicht selbst davon profitierte. Das hatte sie von klein auf gelernt, und alles, was sie sich über Psychologie angelesen hatte, bestätigte sie darin.
Und so hatte sie Sara für das Essen gedankt, sich in ihr Arbeitszimmer zurückgezogen und beschlossen herauszufinden, welchen Gewinn sie aus Selbstdisziplin und Selbstverleugnung schöpfte. Sie legte ein Blatt Papier vor sich hin, nahm einen Stift und versuchte sich in der Technik, einfach spontan und ohne nachzudenken aufzuschreiben, was ihr einfiel. Das hatte sie auch bei der Therapeutin in
Vita divina
getan, allerdings war es dabei um die Frage gegangen, was ihr Stress bereitete.
Als Donatella nichts mehr einfiel, ließ sich von Sara einen Caffè bringen und las erst dann, was sie geschrieben hatte.
Es war alles Mist, oberflächlicher Mist! Sicherheit stand da, gleich zweimal, Wohlstand, Sorge um die Kinder, Erhalt der Familie, die Stellung in der Gesellschaft, die Firma, Ricardos Karriere, die Struktur, die Struktur …
Auch die Therapeutin hatte ihr damals gesagt, dass sie ihre sogenannten «spontanen» Antworten für Mist hielt, nur hatte sie das höflicher ausgedrückt.
Donatella betrachtete ihre rechte Hand. Seltsam, sie hatte den ganzen Tag noch nicht an ihren Fingern gekaut. Gestern vielleicht auch nicht, sie konnte sich nicht erinnern.
Grauen erfasste sie erst beim zweiten Lesen der Begriffe, die sie aufgeschrieben hatte. Ihre geballte Lebenslüge stand auf diesem Blatt Papier. Donatella sprang auf und lief in Ricardos Arbeitszimmer, riss die Tür zu seiner Hausbar auf, holte seinen geheiligten schottischen Whisky heraus und trank aus der Flasche.
Bis in die frühen Morgenstunden quälte sie sich, ehe sie die richtigen Worte unter die falschen schreiben konnte: Angst und Macht.
Das war der Gewinn aus der Struktur: die Bändigung der Angst vor Vernichtung und Tod, und die schützende Macht, die sie an Ricardos Seite zu besitzen glaubte.
Als sie das geschafft hatte, warf sie die Flasche an die Wand. Vielleicht hatte sie Grund, Benjamin Sutton dankbar zu sein.
Tommasini und Guerrinis Stellvertreter Vice-Commissario Lana schickten alle verfügbaren Einsatzkräfte los, auch die der umliegenden Gemeinden, um Bauern und Geschäftsleute nach ihrer Verbindung zu illegalen Geldverleihern zu befragen. Die Kollegen hatten ein Foto von Cosimo Stretto dabei und ein Phantombild des Mannes, der auf Commissario Guerrini geschossen hatte. Die Pisellis hatten versucht, ihn zu beschreiben, waren sich dabei aber in die Haare geraten, und so war nur ein sehr ungefähres Bild dabei herausgekommen.
«Ich will, dass diese Person so schnell wie möglich gefasst wird!», hatte der Vice-Questore verkündet – der Questore weilte gerade auf einer internationalen Tagung. «Wir sind hier nicht in Sizilien, nicht in Neapel, und wir sind auch keine Zweigniederlassung der ’Ndrangheta! Ich will auch nicht, dass wir eine werden!»
Vice-Commissario Lana setzte auf Informationen der Abhörzentrale, um klammen Mitbürgern auf die Spur zu kommen, Tommasini mehr auf seinen Schulfreund, der inzwischen Filialleiter einer alten Sieneser Bank war. Ein Kollege wurde dazu abgestellt, den verletzten Guerrini zu bewachen, und so schwärmten alle aus, sogar D’Annunzio, dessen Dienst an der Pforte der Questura von einer jungen Kollegin übernommen wurde, der man den Einsatz nicht zutraute. Aber das sagte ihr keiner.
Commissario Guerrini kämpfte unterdessen noch immer mit dem fliegenden Hund, der unter grotesken Verrenkungen durch seine Träume raste, manchmal direkt auf ihn zu, sodass Guerrini beide Arme hochriss, um seinen Kopf vor dem drohenden Zusammenprall mit dem Schädel des Tieres zu schützen. Erst gegen Nachmittag tauchte der Commissario allmählich aus den Nebeln auf, in die Dottor Fausto ihn geschickt hatte, und machte sich daran herauszufinden, was mit ihm geschehen war.
Seine Erinnerungen waren sehr diffus – es kamen Personen darin vor, die er in keinen Zusammenhang stellen konnte. Seine Exfrau Carlotta zum Beispiel tauchte gemeinsam mit Angela Piselli vor ihm auf, beide tranken Espresso aus kleinen Tassen, spuckten ihn aber wieder aus. Kurz darauf lag Carlotta in seinem Bett und flüsterte, dass er die Scheidungsurkunde nie finden werde.
Guerrini stöhnte so laut, dass Schwester Giulietta erschrocken herbeieilte und sich über ihn beugte.
«Haben Sie Schmerzen, Commissario?»
Langsam öffnete Guerrini seine
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