Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
Koffer stand im Flur. Es roch ziemlich stark nach Putzmitteln, und das Wohnzimmer war so aufgeräumt, als hätte es seit Wochen niemand mehr betreten. Einziges Zeichen von Leben war ein kleiner Rosenstrauß auf dem Tisch. Weiße Rosen. Laura fiel die weiße Rose ein, die Donatella Cipriani dem toten Benjamin Sutton auf die Brust gelegt hatte.
Sobald ich mich besser fühle, muss ich mich um Donatella kümmern. Irgendwie habe ich nichts mehr im Griff. Eigentlich sollte diese Erkenntnis sie beunruhigen, doch sie empfand nur eine wattige Gleichgültigkeit – fast verdächtigte sie Dottor Fausto, ihr nicht nur ein Kreislaufmittel, sondern auch ein Beruhigungsmittel mit Spätwirkung verabreicht zu haben.
Wer hatte wohl die weißen Rosen auf den Tisch gestellt? Die Haushälterin Zenia, Tommasinis Frau oder Leonardo? Vielleicht auch Guerrinis Vater oder seine Cousine? Die Küche war blitzblank, der Kühlschrank voll. Sogar Lauras Lieblingskäse, junger Pecorino, war da. Sie durchstreifte die Wohnung und konnte Angelo hinter all der Ordnung und den Putzmittelgerüchen nicht finden. Sie öffnete die Fenster, ließ kühle Luft herein. Das Bett im Schlafzimmer war frisch bezogen und die Decke so fest um die Matratze gestopft, als hätte nie zuvor jemand darin geschlafen.
Auf dem Nachttischchen lagen Bücher, Laura nahm das oberste zur Hand.
Tristano stirbt
von Antonio Tabucchi. Beinahe hätte sie es fallen lassen, griff nach dem nächsten. Texte von Saviano über die Camorra. Das dritte Buch war sehr schmal, ein Gedichtband von Alda Merini. Laura erinnerte sich, dass die Dichterin erst vor kurzer Zeit gestorben war. Ein Zettel markierte offensichtlich die Seite, die Angelo zuletzt gelesen hatte. Laura blätterte das Buch auf und las:
Io ero un ucello
Dal bianco ventre gentile
Qualcuno mi ha tagliato la gola
Per riderci sopra
Non so. [1]
Sie schlug das Buch wieder zu und murmelte: «Es hat nichts zu bedeuten …» Dann fiel ihr ein, dass Angelo einmal gesagt hatte, dass Italiener – und Toskaner im Besonderen – zur Schwermut neigten, ganz entgegen den allgemeinen Vorurteilen, denen zufolge die Italiener ein fröhliches Volk waren.
Sie flüchtete auf Guerrinis geliebte Terrasse hinaus, ein Schwarm weißer Tauben flog vom Dach gegenüber auf. Alles war da: die Torre del Mangia, die hellroten Dächer der Stadt, das Knattern der Vespas und Apes, die Stimmen aus den anderen Wohnungen. Und doch war alles anders. Was hatte Zenia nur mit Angelos Wohnung gemacht?
Ich sollte nicht so viel nachdenken, sondern schlafen. Essen und schlafen. Sie hatte keinen Hunger, zwang sich trotzdem dazu, ein Stück Schinken und etwas von dem Schafskäse zu essen. In einer Ecke der Anrichte entdeckte sie eine angebrochene Rotweinflasche. Immerhin ein Zeichen, dass Angelo irgendwann hier gelebt hatte.
Sie stellte sich unter die Dusche und ließ das lauwarme Wasser lange über Gesicht und Körper rinnen. Danach wickelte sie ein Badetuch um sich, trank einen Schluck Rotwein, gleich aus der offenen Flasche, riss mit einiger Anstrengung die festgestopfte Decke aus dem Bett und ließ sich endlich fallen.
Leben ist etwas Wundersames, dachte sie. Wer lebendig ist, kann sich nicht vorstellen, dass es aufhören könnte, das Leben. Dabei trennt uns nur ein Atemzug vom Tod. Ein wundersamer Atemzug.
Der Schluck Wein hatte sie betrunken gemacht, jedenfalls fühlte sie sich betrunken. Vielleicht lag es an Dottor Faustos Beruhigungsmittel.
Laura zog das steife gestärkte Laken und die Decke über sich, griff nach dem Buch
Tristano stirbt
, schlug es auf und wieder zu. Warum hatte Angelo gerade dieses Buch gelesen? Sie wollte ihn fragen, würde ihn fragen. Trotz ihrer Müdigkeit empfand sie eine flimmernde Unruhe, umschlang das Kopfkissen mit beiden Armen und rollte sich auf die Seite. Sie hatte gehofft, seinen Duft in diesem Bett zu finden, doch Zenia hatte ganze Arbeit geleistet.
DONATELLA CIPRIANI schlief nicht in dieser Nacht. Sara zuliebe hatte sie eine Scheibe Ossobuco und etwas Gemüse gegessen, obwohl sie beim Anblick des gedeckten Tisches hätte kotzen können. Selbstdisziplin war ein Instrument, auf das sie noch immer zurückgreifen konnte. Sie konnte auch dann noch freundlich sein, wenn sie am liebsten geschrien hätte. Warum eigentlich? Warum schrie sie nicht? Weil es sich nicht gehörte zu schreien? Lächerlich! Was hatte sie überhaupt davon, wenn sie immer so perfekt funktionierte? Irgendeinen Gewinn musste sie doch selbst davon haben,
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