Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
oben. Es ist alles in Ordnung: Nur, bitte laufen Sie jetzt nicht mit diesen Seuchenanzügen durchs Haus. Beinahe wäre er vor uns auf die Knie gefallen.» Havel brach in Gelächter aus.
«Wieso lachst du nicht, Laura? Das ist komisch!»
«Ja, es ist komisch! Aber es hätte auch bedeuten können, dass jemand wichtige Spuren beseitigt.»
«Die waren sowieso schon weg! Falls Sutton umgebracht worden ist, war ein Profi am Werk, Laura. Alles war abgewischt, Gläser, Flaschen, Türklinken. Darauf haben wir nicht mal die Fingerabdrücke des Toten gefunden. Dabei haben wir wirklich das ganze Register abgespult: Haare, Hautpartikel, Spucke. Fehlanzeige! Seine Brieftasche war da, seine Klamotten, der Koffer, Pflegeutensilien im Bad und ein paar Gedichte. Auf denen waren aber nur seine eigenen Fingerabdrücke. Kein Laptop allerdings, was ungewöhnlich ist für einen Geschäftsmann. Aber vielleicht war er gar keiner. Ich kann dir nichts bieten. Falls die Obduktion auch nichts ergibt, dann war es wohl ein natürlicher Tod. Obwohl … dazu war mir das Zimmer viel zu sauber.»
«Setz dich doch endlich! Was war in der Brieftasche?»
«Ich steh aber lieber. Sitz eh den ganzen Tag. Ich hab dir alles mitgebracht. Hier ist der Beutel: Brieftasche, Gedichte. Mehr Persönliches war da nicht. Ach so, auf der Mailbox seines Handys waren nur ein paar Anrufe einer Donatella. Einer vom Abend vorher und drei vom nächsten Tag. Warte, sogar vier. Sie rief nochmal kurz vor halb vier Uhr nachmittags an und sagte, dass sie jetzt abfliege. Sie klang ziemlich verzweifelt. Außerdem war da noch ein Anruf von einer anderen Frau. Sie wollte wissen, wann genau er zurückkomme, damit sie ihn abholen könne. Der Anruf kam aus Hamburg von einer Festnetznummer. Wir konnten die Anruferin sofort ermitteln: Es war seine Frau. Monica Sutton. Die Adresse und Telefonnummer hab ich dir per E-Mail geschickt.»
«Ein Zettel wär mir lieber!»
Andreas Havel grinste. «Ich wusste, dass du das sagen würdest!»
Laura lächelte ebenfalls. «Ich möchte mir die Anrufe später nochmal anhören.»
«Klar.»
«Ist das alles?»
«Bisher schon. Abgesehen von der Tatsache, dass er zwei Reisepässe mit unterschiedlichen Namen bei sich trug. Er war also sicher kein Unschuldslamm. Aber ansonsten nichts. Tut mir leid.» Havel verschränkte seine Arme vor der Brust und lehnte sich an die Wand. Ein weicher blonder Dreitagebart bedeckte seine Wangen und sein Kinn, und Laura fand, dass ihm genau das sehr gut stand.
«Muss dir nicht leidtun», erwiderte sie. «Lässt du mir die Brieftasche und die Gedichte da? Ich möchte sie mir in Ruhe ansehen.»
«Es sind schöne Gedichte. Liebesgedichte. Eins wollte ich mir sogar abschreiben. Für meine Freundin.» Die Fältchen um seine Augen zuckten.
«Wolltest?»
«Ich hab’s mir dann doch anders überlegt. Vielleicht hätte sie mich ausgelacht. Es ist ziemlich stark.»
«Ich bin gespannt. Danke, wir sehen uns später, wenn ich mir die Anrufe anhöre. Ich muss gleich los in die Gerichtsmedizin.»
«Na, dann!» Havel legte einen durchsichtigen Plastikbeutel vor Laura auf den Schreibtisch, grüßte scherzhaft auf militärische Art und ging.
Sie betrachtete den Beutel und dachte kurz darüber nach, wie oft sie schon die Überbleibsel von Toten durchgesehen hatte. Diese Kreditkarten, Pässe, Krankenversicherungskarten, Paybacks, Personalausweise, Bahncards, Fotos … in Plastik gepresste Beweise für die Existenz eines Menschen. Wenn er gestorben war, musste man sie durchschneiden, entwerten.
Man könnte sie auch mit den Toten beerdigen, dachte Laura. Sozusagen als moderne Grabbeigabe, nachdem wir unseren Toten ohnehin nichts mehr mitgeben. Wieso geben wir ihnen eigentlich nichts mehr mit? Welch entsetzliche Verarmung unserer Kultur. Kein Schmuck, kein Essgeschirr, nichts für die Reise nach drüben.
Laura streckte die Hand nach dem Plastikbeutel aus. Obwohl es zu ihrem Beruf gehörte, kam es ihr jedes Mal indiskret vor, anderer Leute Brieftaschen zu durchsuchen. Sie löste die Versiegelung, zog ein paar lose Blätter und die lederne Brieftasche heraus.
Angesichts der handgeschriebenen Gedichte erfasste sie eine seltsame Hemmung, deshalb nahm sie sich erst die Brieftasche vor. Der Tote besaß tatsächlich zwei Reisepässe: einen auf den Namen Henry Tennison und den zweiten auf Sir Benjamin Sutton. Die meisten Bank- und Kreditkarten liefen auf Tennison, nur eine einzige auf Sutton. Das war allerdings eine goldene American
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