Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
Express Card.
Ansonsten fanden sich kaum Hinweise auf die Person Sutton/Tennison in der Brieftasche. Keine Krankenversicherung, keine Fotos, keine Visitenkarten von Geschäftsfreunden. Nur 1645 Euro in bar und in einem Seitenfach ein winziger Drachenkopf, der aus Südostasien stammen musste. Er war sehr fein gearbeitet, glänzte golden, als Laura ihn in ihrer Handfläche hin und her rollte und das Licht ihrer Schreibtischlampe auf ihn fiel.
Das war’s. Jetzt musste sie sich notgedrungen den Gedichten zuwenden. Vorsichtig zog sie eines aus dem Bündel.
Du warst mir alles, Liebe,
Was Sehnsucht mir schloss ein:
Ein grünes Eiland, Liebe,
Im Meer, ein Quell, ein Schrein,
Mit Märchenblumen und -früchten umkränzt,
Und all die Blumen waren mein.
O Traum, zum Dauern zu schön!
O Sternenhoffnung, die mir bloß
Aufging, um zu vergehn!
Und all meine Tage entrücken
Und Nächte mich vor deinem Bild,
Wo deine grauen Augen blicken
Und wo dein Fußtritt schwillt –
Welch himmlisches Entzücken,
Welch ewiges Gefild!
Ganz winzig standen ein paar Buchstaben unten auf der Seite. E . A . P .
Edgar Allan Poe, dachte Laura, immerhin hat Sutton seine Quellen notiert. Wusste gar nicht, das Poe auch Liebesgedichte geschrieben hat. Behutsam glättete sie das zweite Blatt, das ein bisschen zerknittert aussah. In der Ecke oben links stand, wieder in dieser kaum erkennbaren winzigen Schrift: Byron.
Lebe wohl, und sei’s auf immer,
Sei’s auf immer, lebe wohl!
Doch, Versöhnungslose, nimmer
Dir mein Herze zürnen soll.
Könnt ich öffnen dir dies Herze,
Wo dein Haupt oft angeschmiegt
Jene süße Ruh empfunden,
Die dich nie in Schlaf mehr wiegt.
Könntest du durchschaun dies Herze
Und sein innerstes Gefühl,
Dann erst sähst du: es so grausam
Fortzustoßen war zu viel.
Lebe wohl! Ich bin geschleudert
Fort von allen Lieben mein,
Herzkrank, einsam und zermalmet, –
Tödlicher kann Tod nicht sein.
Abschiedsgedichte, dachte Laura. Auf diese Weise hat er sich seinen Damen tief ins Herz gegraben. Gut ausgesucht. Mal sehen, was er noch zu bieten hat. Eigentlich musste sie los. Vermutlich wartete Dr. Reiss schon auf sie. Nur noch ein letztes Gedicht …
Welch eine Nacht! Ihr Götter und Göttinnen!
Laura stockte und hielt kurz die Luft an, überflog hastig die nächsten Zeilen:
Wie Rosen war das Bett! Da hingen wir
Zusammen im Feuer und wollten in Wonnen zerrinnen.
Laura schob das Blatt von sich, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Plötzlich hatte sich die Situation umgedreht. Nicht nur sie drang in das Leben eines anderen ein, sondern der andere auch in ihres. Sutton hatte sich ihres Gedichts bemächtigt, des Gedichts, das Guerrini für sie ausgesucht hatte und das sie in ihrem Rucksack mit sich herumtrug. Das Gedicht des Römers Petronius. Vermutlich hatte Sutton es Donatella Cipriani nach einer heißen Liebesnacht vorgelesen und wahrscheinlich nicht nur ihr.
Laura spürte, wie ihr Magen sich ganz langsam zusammenkrampfte, und versuchte gegen die aufsteigende Übelkeit anzuatmen.
Es ist ein verdammter Zufall, dachte sie. Solche Zufälle gibt es, auch wenn es sie nicht geben dürfte. Es hat nichts mit mir zu tun und nichts mit Angelo. Das Gedicht ist zweitausend Jahre alt und wahrscheinlich Tausende Male von Liebespaaren rezitiert worden. Deshalb hat es nichts mit mir und Angelo zu tun, dass auch Sutton es aufgeschrieben hat!
Obwohl sie diesen Satz ein paarmal wiederholte, fühlte sie sich verletzt und aufgestört, als wäre ein Fremder mit kaltem Blick in ihr Innerstes eingedrungen.
Es dauerte lange, ehe sie die losen Seiten wieder zusammenpackte und mit der Brieftasche zurück in den Plastikbeutel steckte. Als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, nahm sie das Gespräch nicht an, griff stattdessen nach Jacke und Rucksack und flüchtete zum zweiten Mal in dieser Woche über die Hintertreppe aus dem Präsidium.
«GEHEN WIR’S GLEICH AN, ich hab nicht besonders viel Zeit, und Sie haben sich verspätet, Laura.» Der Pathologe warf ihr über den Rand seiner Brille einen vorwurfsvollen Blick zu. «Mein junger Kollege hat die Grippe, und das hier ist nicht die einzige Leiche, die zu begutachten ist. Allerdings die interessanteste!»
Es macht ihm Spaß, dachte Laura, nach all den Jahren macht es ihm noch immer Spaß, dieser alten Krähe. Ihr fiel die sanfte Bewegung auf, mit der Doktor Reiss das Tuch von Suttons Körper zog. Er
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