Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
etwas wie Angst schwang mit oder auch Verletztheit, dieses «Wo bist du, warum tust du mir das an». Es war noch stärker im Anruf Nummer drei, etwa fünfzehn Minuten später. Und Nummer vier, kurz vor ihrem Abflug, klang atemlos, regelrecht panisch. «Wo bist du, warum meldest du dich nicht?»
«Nochmal, bitte. Ganz von Anfang an.»
Gemeinsam lauschten sie, dann wurde es still.
«Es könnte echt sein», sagte Laura nach einer Weile, «und es könnte auch eine Inszenierung sein. Vielleicht hat sie gewusst, dass er tot ist, und deshalb immer wieder angerufen. Vielleicht ist sie zu mir gekommen, um seinen Tod zu vertuschen. Es ist durchaus möglich. Ich habe ihr während unseres Gesprächs nicht wirklich getraut. Was ist denn dein Eindruck?»
«Ich finde, sie klingt unheimlich theatralisch. Wie eine Schauspielerin. Eine gute Schauspielerin. Auf solche Weise kann man sich ein Alibi verschaffen. Das ist schon manchen gelungen. Wo ist sie denn jetzt?»
«Sie ist in Mailand, aber sie hat versprochen, dass sie morgen zurückkommt. Sie will um jeden Preis vermeiden, dass irgendetwas an die Öffentlichkeit gelangt.»
«Warum hast du sie eigentlich wegfliegen lassen?» Havel warf Laura einen nachdenklichen Blick zu, rubbelte dann auf einem Fleck auf seiner Jeans herum.
«Ich hatte sie in der Hand. Wenn sie nicht zurückkommt, droht ihr die Öffentlichkeit. Und davor fürchtet sie sich wirklich. Da war noch etwas. Vielleicht hat sie tatsächlich nicht geglaubt, dass Sutton sie erpresst hat. Es könnte sein, dass sie sich daran klammert, dass ein Unbekannter sie ausspionierte. Oder dass sie die Erkenntnis der Wahrheit nicht zulassen konnte. Verstehst du, was ich meine?»
«Nein.» Havel lächelte. «Aber es reicht ja, wenn du es verstehst.»
Als Laura ins gläserne Großraumbüro zurückkehrte, saßen Claudia und Baumann noch immer vor dem PC und gingen mit grimmigem Vergnügen die Listen betrogener Frauen durch. Sie nahmen Laura kaum zur Kenntnis, so vertieft waren sie.
«Habt ihr noch mehr gefunden? Ich meine, über Sutton?», fragte Laura.
Peter Baumann schaute nicht auf, schüttelte nur den Kopf. «Nein, nicht direkt. Aber es ist total spannend, was da so alles läuft. Ich glaube, ich lass mich in das zuständige Dezernat versetzen. Ach, übrigens: Suttons Frau ist auf dem Weg nach München. Sie landet in einer Stunde und kommt vom Flughafen direkt hierher.»
Laura sah auf die Uhr. Halb vier, vor halb sechs würde Suttons Frau nicht im Präsidium auftauchen. Wahrscheinlich eher später. Sie musste Sofia und Luca Bescheid sagen, dass es wieder einmal später werden würde. Gerade als sie nach Claudias Telefon greifen wollte, fiel ihr ein, dass die beiden sich an diesem Abend mit ihrem Vater treffen wollten. Was sie sonst mit Erleichterung erfüllt hätte, beunruhigte sie diesmal.
DER KALTE REGEN hatte die rötliche Erde auf den Hügeln der Crete in schokoladenbraune Klumpen verwandelt, über denen der kaum merkliche grüne Schimmer des keimenden Winterweizens lag. Nebelschwaden stiegen aus den Tälern auf, als brodelten auf ihrem Grund heiße Quellen. Auf dem Weg nach Asciano hielt Commissario Guerrini den Dienstwagen an, stieg aus und ging ein paar Meter in eine alte Zypressenallee hinein. Der Nebel umhüllte die Bäume, setzte sich in winzigen Tropfen auf allen Zweigen, Nadeln, Grashalmen ab. Guerrini spürte die Feuchtigkeit auf seinem Gesicht, seinem Haar. Der Nebel war kalt, und nach kurzer Zeit begann Guerrini zu frösteln. Er schlug seinen Jackenkragen hoch und blieb stehen. Kein Vogel schrie, kein Auto fuhr unten auf der Straße vorbei, kein Hund bellte in einem der vom Nebel verschluckten Bauernhäuser. An stacheligen Ranken hingen noch ein paar vergessene Brombeeren.
Guerrini stand ganz ruhig, ließ auch sich selbst vom Nebel umschließen, der aus den Zypressen graue Schemen machte und aus dem Nachmittag beinahe Nacht. Als endlich das hauchzarte Zirpen eines Zaunkönigs die Stille durchbrach, war es wie ein Lichtstrahl. Ein Lebenszeichen, das die angehaltene Zeit wieder in Gang brachte.
Die Geschichte der jahrhundertelangen Ausbeutung in diesem Land ging Guerrini durch den Sinn. Die Geschichte der Armut, der rechtlosen Bauern, denen ihr Land nie gehört hatte. Der Bohnenfresser, wie die Toskaner genannt wurden, weil sie arm waren und Bohnen ein billiges Nahrungsmittel. Nun öffnete sich also ein neues Kapitel, das eigentlich eine Fortsetzung der vielen alten war.
Wucher hatte es immer gegeben in
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