Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
erneut in die Tasche, legte die Beine auf den Schreibtisch und wählte die erste Nummer, die Claudia aufgeschrieben hatte.
‹Helene von Gaspari› stand daneben. Klingt wie aus einem Kitschroman, dachte Laura. Unglaublich, dass es so etwas wirklich gibt. Natürlich meldete sich die Dame nicht selbst, sondern ihre Sekretärin. Laura fragte nach einem Termin. Es sei dringend. Kriminalpolizei, aber nichts, was Frau von Gaspari beunruhigen müsste, und trotzdem sehr wichtig für die Ermittlungen der Polizei. Eine vertrauliche Sache, über die sie nicht sprechen könne, nur mit Frau von Gaspari selbst. Man werde es weiterleiten und zurückrufen, war die kühle Antwort.
Die zweite Dame, mit dem eher prosaischen Namen Ingrid Seebauer, befand sich gerade in der Karibik, und auch hier versprach man Laura, die Angelegenheit vorzutragen. Allerdings sei ein Treffen in naher Zukunft unwahrscheinlich, denn Frau Seebauer verbringe meist den gesamten Winter auf ihrem Anwesen auf Antigua.
Auch nicht schlecht, dachte Laura. Und sie fragte sich, wie Sutton wohl an die Damen herangekommen war. Ob er Klatschzeitschriften studiert hatte oder die Listen der reichsten Personen Deutschlands? Vielleicht bewegte er sich auch in diesen Kreisen – als Sir Benjamin erfüllte er dafür alle Voraussetzungen.
Ich hasse solche Ermittlungen, dachte Laura. Es läuft mir total zuwider. Luxusprobleme. Wieso muss ausgerechnet ich an diese Geschichte geraten? Plötzlich hatte sie Sehnsucht nach der Stimme ihres Vaters. Ihm könnte sie die Sache mit dem zerrissenen Gedicht erzählen. Er würde es verstehen und sie zum Lachen bringen. Das schaffte er meistens. Sie wählte die Nummer des alten Emilio Gottberg, wartete beinahe ängstlich, zählte wie so oft die Klingeltöne … drei, vier, fünf, sechs …
«Wer da?»
«Ich bin’s, Babbo!»
«Wie schön!»
«Was machst du?»
«Ich habe gerade die Zeitung zur Seite gelegt und überlegt, ob ich eventuell Hunger haben könnte.»
«Hast du gefrühstückt?»
«Warte mal … jaja, eine Tasse Milchkaffee und ein ungetoastetes Toastbrot mit Butter und Honig. Ich kann zurzeit nicht so gut beißen.»
«Zahnschmerzen?»
«Eine Druckstelle.»
«Gehst du zum Zahnarzt?»
«Na, ich warte noch ein bisschen damit.»
«Möchtest du Weißwürste zu Mittag? Die sind auch weich. Weißwürste, ungetoastetes Toastbrot und ein Weißbier.»
«Und woher krieg ich das?»
«Ich bring’s dir, Babbo.»
«Beeil dich, Laura. Ich hab dich fast eine Woche lang nicht gesehen! Und … ich hätte gern zwei Paar Weißwürscht, vergiss den süßen Senf nicht. Meiner ist ausgegangen! Und dunkles Weißbier, das passt besser zum Winter!»
Emilio Gottberg öffnete seine Wohnungstür beinahe gleichzeitig mit Lauras Druck auf den Klingelknopf. Leicht gebeugt lächelte er seiner Tochter entgegen. Das etwas dünne weiße Haar hatte er wohl erst vor ein paar Minuten so sorgfältig gekämmt, dass Laura noch die Spuren der breiten Zinken sehen konnte. Sie kannte seinen großen Kamm. Er lag immer auf der schmalen Konsole im Flur unter dem Spiegel mit dem goldenen Barockrahmen.
«Lass dich anschaun. Warte …» Der alte Gottberg fasste seine Tochter an den Schultern, drehte sie ins Licht und musterte sie aufmerksam. «Du siehst ernst aus. Ist was passiert?»
Laura küsste ihren Vater auf beide Wangen, spürte die trockene gefurchte Haut unter ihren Lippen, nahm den Geruch seines Rasierwassers wahr, den sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Er hatte nie die Marke gewechselt.
«Nein, es ist nichts passiert», erwiderte sie. «Ich bin eben gerade in einer ernsthaften Stimmung. Und du?»
«Ich bin eher grantig. Die Aussicht auf vier Monate Winter ist deprimierend, findest du nicht? Deine Mutter mochte den Winter auch nicht. Erinnerst du dich daran, wie sehnsüchtig sie auf jedes Anzeichen von Frühling gewartet hat? So geht es mir inzwischen auch. Dabei haben wir noch nicht einmal Weihnachten.» Er half Laura aus ihrer Lederjacke, hängte sie an die Garderobe und richtete seinen Oberkörper auf einmal sehr gerade auf. «Außerdem weiß man in meinem Alter nie, ob man den nächsten Frühling noch erlebt. Das kann zwar niemand wissen, aber wenn du über achtzig bist, ist die Wahrscheinlichkeit wesentlich geringer als bei anderen Leuten.» Er lachte, bückte sich und griff nach der Plastiktasche, die Laura auf den Boden gelegt hatte. «Sind das die Weißwürscht? Du hast übrigens vorhin Weißwürste gesagt. Das ist eine Schande
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