Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
irgendeiner Stelle in ihrem Inneren untergebracht, wo sie zu ruhen schien. Hin und wieder versuchte sie herauszufinden, wie es möglich war, dass Menschen Unerträgliches letztlich doch ertragen konnten. Sogar ihr Vater Emilio ertrug den Verlust seiner Frau inzwischen, obwohl sein Schmerz deutlicher zu spüren war, wie ein zartes, dunkles Muster, das seit vier Jahren über seinem Leben lag.
An diesem ersten Abend, den Laura allein verbrachte, nachdem Luca seine Pläne offenbart hatte, sehnte sie sich nach ihrer Mutter. Hätte gern mit ihr darüber gesprochen, wie sie es empfunden hatte, als Laura damals ausgezogen war.
Doch trotz der warmen Milch mit Honig schaffte sie es nicht, eine Art lebendigen inneren Kontakt zu ihrer Mutter zu finden. Nur die Bilder ihres Sterbens stiegen in Laura auf. Bilder der Agonie, der Entstellung, röchelnde Atemzüge, dieses Greifen in die Luft, als befände sich dort, unsichtbar für alle anderen, etwas sehr Wichtiges, das sie im Augenblick ihres Sterbens unbedingt haben wollte.
Es waren Bilder, die Laura in sich eingeschlossen hatte und über die sie noch nie hatte sprechen können, sie, die als Kommissarin ständig mit dem Tod konfrontiert war.
Still trank Laura ihre süße Milch aus, stellte die Tasse in die Spüle, löschte das Licht, legte sich auf ihr Bett und betrachtete die hellen Muster auf der Zimmerdecke, die von draußen eindrangen. Nie herrschte wirkliche Dunkelheit in der Stadt.
Ich bin überhaupt nicht über den Tod meiner Mutter hinweg, dachte sie. Vielleicht habe ich sie gar nicht gekannt.
«ES KÖNNTE SEIN, dass Sutton an einer Injektion mit Kaliumchlorid gestorben ist! Das ist außerordentlich schwer nachzuweisen, aber ich halte es für wahrscheinlich.» Doktor Reiss machte eine Pause und fügte dann hinzu: «So ein Fall ist mir noch nie untergekommen … ich meine, wenn es sich tatsächlich um Kaliumchlorid handeln sollte.»
«Was bewirkt Kaliumchlorid?» Laura hatte gerade erst ihr Büro aufgeschlossen und noch nicht einmal ihre Jacke ausgezogen, als das Telefon geklingelt hatte.
«Es bewirkt einen Herzstillstand. Im gewissen Sinn ist es eine ähnliche Methode wie eine Luftembolie. Sie wird dadurch ausgelöst, dass dir jemand Luft in eine Arterie spritzt. Dann allerdings kann man einen Schlaganfall nachweisen. Bei einer Kaliumchloridinjektion dagegen gar nichts. Es ist wahrscheinlich eine der unverdächtigsten Mordvarianten.»
«Und wie kommen Sie auf Kaliumchlorid?»
«Ich habe mir Sutton nochmal ganz genau angesehen, weil es mir keine Ruhe gelassen hat. Und ich wurde belohnt: In der rechten Armbeuge habe ich eine winzige Einstichstelle gefunden. So klein, dass man sie leicht übersehen konnte. Da aber außer K.-o.-Tropfen in Suttons Blut nichts nachzuweisen war und er auch keinen Schlaganfall hatte, kann nur Kaliumchlorid seinen Tod verursacht haben. Ihr Mörder oder Ihre Mörderin muss sich wirklich ganz gut mit medizinischen Dingen auskennen, Laura.»
«Sie gehen also davon aus, dass es Mord war?»
«Allerdings. Ein sanfter Mord.»
«Kann er nicht einfach an den K.-o.-Tropfen gestorben sein? Kreislaufversagen oder so was?»
«Halte ich für unwahrscheinlich. Dazu war er einfach zu gesund. Das hätte er locker weggesteckt. Warum hängen Sie eigentlich so an einer natürlichen Todesursache, Laura? Scheuen Sie auf einmal Ermittlungen?» Doktor Reiss schickte ein leises, amüsiertes Lachen durchs Telefon.
«Es würde vieles erleichtern, Doktor. Zum Beispiel könnten wir die Medien außen vor lassen. Falls es Mord war, wird das schwierig, wenn nicht unmöglich, und die Ermittlungen noch schwieriger.»
«Warum wollen Sie denn die Medien außen vor lassen?»
«Weil es sich um einen sehr delikaten Fall handelt. Es scheint, dass Sutton Verhältnisse mit einigen reichen Damen unterhielt, die um keinen Preis mit ihm in Verbindung gebracht werden wollen.»
«Nehmen Sie darauf wirklich Rücksicht, Laura? Ich meine, die Damen mussten doch wissen, dass sie sich auf eine riskante Sache einlassen.»
«Vielleicht wussten sie es nicht. Vielleicht haben sie Sutton geglaubt. Ich denke, dass er seine Sache verdammt gut gemacht hat.»
«Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass vermeintliche Liebe eines der größten Risiken des Lebens darstellt? Mindestens sechzig Prozent der Leichen, die über meine Seziertische wandern, sind in irgendeiner Form Opfer von Beziehungskatastrophen. Wahrscheinlich ist sechzig Prozent noch zu niedrig gegriffen. Aber das muss
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