Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
Und doch ging das Leben für die meisten Menschen so weiter wie bisher. Sogar für Guerrini selbst. Aber manchmal fragte er sich, wie lange noch.
Er kippte den Rest seines Kaffees in einen der leeren Blumenkästen und machte sich auf den Weg zu Bellagambas Hof.
Es dauerte nur ein paar Minuten, ehe er die Stadt hinter sich gelassen hatte. Siena lag noch im Halbschlaf, und Guerrini war froh darüber, dass er so früh aufgebrochen war. Flache Wolkenfetzen rasten über die Felder. Einige Sturmböen waren so heftig, dass sie an Guerrinis Lancia rüttelten.
Bellagambas Hof lag in den faltigen Ausläufern des Monte Amiata, etwa vierzig Minuten von Siena entfernt, in einer Gegend, die noch ein paar Kleinbauern beherbergte. Solche, die Chianina-Rinder für Luxusrestaurants züchteten oder spezielle Schweinerassen. Es gab auch einige Biobauern in der Gegend. Jeder versuchte, eine Marktlücke zu erwischen: Bio-Oliven, Bio-Gemüse, Bio-Fleisch, Ziegen- und Schafskäse, die gerade einen Boom erlebten.
Guerrini mochte diese Gegend, weil die Vielfalt der Landschaft und der Vegetation hier noch erhalten war: kleine Wälder, Wiesen unter Olivenbäumen, steile Hügel, kleine Bäche, Schilf- und Bambushaine, Hecken und sogar Trockenmauern zwischen den Äckern. Es war eine Gegend, in der die Bauern früher Dornengestrüpp aufhäuften, um ihre Schafe und Ziegen vor den Wölfen zu schützen.
Guerrini liebte auch die kleinen Gemüsegärten und Hühnerställe rund um die Dörfer. Plötzlich erinnerte er sich an ein hitziges Wortgefecht mit einem seiner politischen Gesinnungsgenossen. Der hatte heftig gegen jede Form von Subsistenzwirtschaft polemisiert und die Rückständigkeit Italiens beklagt, die sich in genau diesen Gemüsegärten und Hühnerställen zeige. Guerrini hatte erwidert, dass für ihn diese marxistische Sichtweise eine völlig hirnrissige Theorie sei und er diese Gemüsegärten und Hühnerställe für einen Ausdruck von Unabhängigkeit und Lebensfreude halte. Außerdem hätten Gemüsegärten und Hühnerställe eine Menge mit gutem Essen zu tun. Es hätte damals nicht viel gefehlt, und der Kollege hätte ihn den Rechten zugeordnet und zum Kleinbürger erklärt.
Guerrini lenkte seinen Wagen in den Feldweg, von dem er annahm, dass an seinem Ende der Hof von Bellagamba lag.
Absichtlich hatte er das Navigationsgerät nicht eingeschaltet, sondern sich auf seinen Orientierungssinn verlassen. Er war sehr erleichtert, als er wirklich Bellagambas Hof vor sich liegen sah.
Die Sonne schien genau in diesem Augenblick auf das kleine Anwesen, allerlei Geflügel flüchtete kreischend vor Guerrinis Wagen, Truthähne, Perlhühner, Enten, Hennen. Weiße Tauben flogen auf, Kaninchen schlugen Haken. Dann stürzte der Hund aus einem Schuppen, umkreiste knurrend und bellend den Lancia, mit gesträubtem Fell und hochgezogenen Lefzen.
Guerrini lehnte sich zurück und wartete. Hofhunde schienen dieser Tage sein Schicksal zu sein. Sein Blick wanderte über das Wohnhaus, den bröckelnden Putz, die Ansammlung von verrosteten und neuen Geräten in einer offenen Scheune und im Hof, über die Bretter und Ziegel, die den Eindruck einer verlassenen Baustelle erweckten.
Als sich nach vier Minuten, abgesehen vom sich steigernden Hundegebell, noch immer nichts rührte, drückte Guerrini auf die Hupe. Es dauerte noch einmal zwei Minuten, ehe Bellagamba zwischen Wohnhaus und Stall auftauchte und gleichzeitig eine Frau die Haustür öffnete. Der Bauer hob seinen rechten Arm und rief etwas, das Guerrini nicht verstand, die Frau schloss die Tür, der Hund klemmte den Schwanz ein und verschwand in der Scheune.
Bellagamba trug einen dunkelblauen, fleckigen Arbeitsanzug und Gummistiefel. Während er auf Guerrinis Wagen zuging, schaute er mehrmals zum Haus zurück. Guerrini ließ sein Seitenfenster herab, Bellagamba stützte sich mit einer Hand auf dem Wagendach ab und beugte sich ein bisschen vor.
«Buon giorno, Commissario, haben Sie ihn schon erwischt?» Bellagamba war unrasiert und wirkte unausgeschlafen, seine Aussprache war so undeutlich wie in der Nacht, als sie den Toten gesucht hatten. Ganz offensichtlich fehlten ihm ein paar entscheidende Zähne. Sein Alter zu schätzen war schwierig. Er mochte Ende fünfzig sein oder älter, vielleicht aber auch erheblich jünger.
«Buon giorno, Bellagamba. Nein, wir haben ihn noch nicht erwischt. Aber so was geht meistens nicht so schnell. Haben Sie Ihr Schwein schon erwischt?»
«Nein, Commissario.» Bellagamba
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