Nachtgefieder • Laura Gottbergs siebter Fall
Teller, der vor ihr auf dem Tisch stand. Offensichtlich hatte sie etwas gegessen, erinnerte sich aber nicht mehr daran, was. Mit der Zungenspitze tastete sie ihre Lippen ab, schmeckte Salziges, eine Spur von Curry. Ja, natürlich, Sara, die Haushälterin, hatte ihr Fettuccine in einer indischen Soße serviert. Jetzt erinnerte sie sich, trotzdem erschrak sie heftig darüber, dass der Vorgang des Essens so vollkommen aus ihrem Bewusstsein verschwunden war.
Donatella griff nach dem Weinglas und trank sehr bewusst einen Schluck des herben Roten. Sie durfte ihre Struktur nicht verlieren, musste diese Nacht überstehen, wie viele andere Nächte zuvor. Ricardo war bereits in Rom, und das war gut so. Es gab ihr Raum. Die Hunde bellten im Garten. Sara würde mit ihnen spazieren gehen. Sie selbst würde jetzt eine kleine Tasche packen, so klein, dass auch Sara nichts auffallen würde. Danach könnte sie noch ein bisschen an ihrem Entwurf für einen Schrank aus Olivenholz arbeiten, der für die nächste Möbelmesse fertig werden musste. Oder aufschreiben, was sie morgen der Commissaria sagen würde. Alles in Ruhe durchgehen, sich bereit machen. Ganz klare Bedingungen stellen. Sie würde nicht noch einmal das Polizeipräsidium betreten. Das Treffen musste an einem neutralen Ort stattfinden, in einem Restaurant oder in einer Galerie, einem Museum. Sie musste Benjamin noch einmal sehen! Musste! Auch das war eine Bedingung! Vielleicht könnte sie später schlafen, wenn sie den Fernseher laufen ließ. Sie musste schlafen, um den nächsten Tag zu überstehen.
Donatella schaute auf ihre rechte Hand. Die Nagelhaut an Daumen und Zeigefinger war blutig gekaut. Sie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl umkippte und mit lautem Knall auf dem Parkettboden landete.
«Che cos’ sè successo, Signora?», rief Sara aus der Küche.
«Niente, è niente!», antwortete Donatella, hob den Stuhl auf und flüchtete in ihr Arbeitszimmer.
Später an diesem Abend verabschiedete sich Commissario Guerrini vor dem
Aglio e Olio
von Dottor Salvia. Er fühlte sich gut, gesättigt von interessanten Gesprächen und einem köstlichen und ausgiebigen Mahl. Tommasinis Bruder, der die Osteria seit einem Jahr betrieb, hatte sich selbst übertroffen mit seinen knusprigen Crostini con i fegatini und der Minestrone aus Borlotti-Bohnen, Steinpilzen und Salbeiblättern. Nach einer halbstündigen Pause hatte Guerrini sich dann für Lesso rifatto entschieden, gedünstetes Rindfleisch mit Tomaten und weißen Zwiebeln, während der Pathologe Kutteln in Weißwein wählte, Trippa bollita nel vin bianco. Danach tranken sie einen Digestivo, dann einen Espresso, und endlich stellten sie fest, dass sich ihre Freundschaft an diesem Tag gefestigt hatte.
Als sie sich gegen elf Uhr trennten, schlenderte Guerrini über den dunklen Campo, auf dessen feuchten Pflastersteinen sich die Lichter der Laternen spiegelten. Er war allein, die kalte Novembernacht hatte offensichtlich selbst hartgesottene Touristen vertrieben.
In der Mitte des Campo blieb Guerrini stehen und drehte sich ganz langsam um sich selbst, ließ die hohen Häuser mit ihren Zinnen an sich vorüberziehen, deren Form noch immer die Herrschaft wechselnder Machthaber dokumentierte. Guelfen oder Ghibellinen.
Aufgrund seines leichten Schwipses brachte Guerrini die Zinnen und ihre Erbauer in dieser Nacht durcheinander. Das erheiterte ihn, und er drehte sich weiter. Wie eine Wehrmauer umschlossen die Gebäude den Platz und ihn selbst … jetzt kam der Palazzo Pubblico, die Torre del Mangia. Guerrini drehte sich ein zweites Mal und hatte dabei den Eindruck, als rückten die Gebäude ein Stück näher.
Er schüttelte den Kopf und drehte sich in die entgegengesetzte Richtung, um seinen Schwindel zu mildern. Jetzt kehrten die Häuser wieder an ihren Platz zurück. Guerrini beobachtete sie ein paar Minuten lang scharf, denn er wollte sicher sein, dass sie sich nicht wieder in Bewegung setzten. Erst dann schlenderte er weiter und genoss es, der Einzige auf dem Campo zu sein.
Zwar mochte Guerrini den Winter nicht besonders, doch die Rückeroberung der Stadt durch die Einheimischen schätzte er durchaus. Diese Rückeroberung war nur im Winter möglich, im Sommer belagerten Heerscharen aus aller Welt den Campo, Tag und Nacht.
Langsam ging Guerrini weiter, dachte an den verrückten Tag, der hinter ihm lag, und war sicher, dass auf seinem Anrufbeantworter Angela Piselli zu hören sein würde, vermutlich auch sein Vater und
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